Brückenbauer im Patienteninterview

03.12.2019 Das Elektronische Patientendossier kommt. Teil dessen könnte künftig eine Chatbot-App sein, die mithilft, medizinische Diagnosen zu präzisieren. Entwickelt wird die App am Departement Technik und Informatik der Berner Fachhochschule.

Beim ersten Patientengespräch sind beide Seiten stark gefordert: Die Ärzte, weil sie in kurzer Zeit zum Kern des Problems finden sollten, die Patienten, weil sie ihre oft komplexe Krankengeschichte prägnant und klar zusammenfassen müssten.

«Probieren Sie mal!» Kerstin Denecke reicht ihr Smartphone über den Tisch. Auf dem Gerät läuft die Betaversion einer App, die zusammen mit dem Elektronischen Patientendossier als Brücke zwischen Patient und Arzt künftig eine Schlüsselrolle in der Diagnostik spielen könnte. Das Layout der Applikation ist ansprechend, es erinnert an Whatsapp-Nachrichten. Ein Chatbot führt durch die Fragen zur Krankengeschichte. Vorteil gegenüber digitalen Fragebögen: Der Chatbot ermutigt, alle Fragen zu beantworten und hakt bei Unklarheiten mit klärenden Fragen nach.

Test mit Musiktherapie

«Ein weiterer Pluspunkt des Chatbots ist, dass man damit den Dialog unterhaltsamer gestalten kann, sei es in Form von Witzen oder mit motivierenden Äusserungen», sagt Kerstin Denecke. Die Dozentin und Forscherin am Departement Informatik und Technik der Berner Fachhochschule hat Anfang 2017 die Idee zur App. Inspiration liefert der Expertin für künstliche Intelligenz eine von ihr betreute Bachelorarbeit über eine elektronische Medikationsassistentin, die den Chatbot als neues Interaktionsprinzip ins Spiel bringt. Denecke will herausfinden, ob man mit dem Chatbot auch eine medizinische Anamnese erheben kann – das Zusammentragen von potenziell medizinisch relevanten Informationen. Nachdem die Finanzierung des Projekts durch einen Förderbeitrag der Haslerstiftung sichergestellt ist, entwickelt Denecke als Erstes das Interaktionsprinzip des Chatbots weiter. Hinsichtlich der künstlichen Intelligenz will die Forscherin jedoch noch keine zu grosse Erwartungen wecken: «Die künstliche Intelligenz besteht darin, dass ein interpretierender Algorithmus bestimmte Muster in den Antworten erkennt und damit das Gespräch steuert.» Basis ist die Artificial Intelligence Markup Language (AIML) zur Kapselung der Fragen und Antworten des Chatbots.

Für die erste Testphase der App wählen Musiktherapeuten 63 Fragestellungen aus, die relevant für ihre Therapien sind wie «Hat mir meine Mutter in meiner Kindheit vorgesungen?» oder «Ich kann meine Stimmung durch Musik gezielt beeinflussen». Es sind selbstreflektierende Fragen, die etwas Gedankenarbeit erfordern und von den allermeisten Testpersonen beantwortet werden können – Anforderungen, die dann auch die finale Selbstanamnese-App erfüllen muss. Angefragte Musiktherapeuten zeigen sich zwar zuerst skeptisch gegenüber der App, lassen sich aber auf das Experiment ein und steuern Fachwissen für die Fragestellungen bei. Und sie werden nicht enttäuscht: Die mobile, dialogorientierte Benutzeroberfläche stösst bei den involvierten Fachpersonen auf sehr gute Resonanz. Durch Rückfragen kann der Chatbot auch auf Leute eingehen, die die Frage zuerst nicht verstehen. Ein Risiko bleibt jedoch: Bei heiklen Themen wie Kindheitserfahrungen könnten auch negative Erlebnisse ans Licht kommen. Im Gegensatz zu einer menschlichen Therapeutin kann die App jedoch keine empathische, einbettende Antwort geben. «Wir müssen uns überlegen, wie wir mit solchen Situationen umgehen», sagt Denecke. Bereits getestet und wieder verworfen hat die Forscherin einen «Mir geht es nicht gut»-Button im App-Menu, der die Fragen unterbricht und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnimmt.

Herausforderung Datenschutz

Eine weitere Herausforderung liegt im Datenschutz. Die BFH-Forscherin arbeitet bereits in der Testphase mit einer verschlüsselten Verbindung, mit der die Daten der App auf eine geschützte Gesundheitsdatenbank transferiert werden. «Das Problem ist die Zwischenspeicherung auf dem Telefon», sagt Denecke. Auch müssten die Patienten jederzeit bestimmen können, wer Zugriff auf ihre Daten erhält. Im Raum steht die Hinterlegung der Selbstanamnese im Elek-
tronischen Patientendossier (EPD). Die Daten müssten jedoch zuerst von einer ärztlichen Fachperson freigegeben werden. Ob dies im Prozess machbar ist, will die Forscherin prüfen. Gespräche über die Integration der durch die App gesammelten Anamneseinformationen in das EPD laufen noch.

Das offiziell geförderte Projekt findet Ende 2018 seinen Abschluss. Experten für Musiktherapie von der Zürcher Hochschule der Künste haben die Fragen nochmals für die zweite Version der App überarbeitet. Kerstin Denecke und ihr Team planen mit Studierenden der Musiktherapie weitere Tests. Eine laufende klinische Studie soll zudem die Frage beantworten, in welcher Behandlungsphase es für Arzt und Patienten Sinn macht, die App einzusetzen: vor dem Erstgespräch und vertiefend nach einem ersten Gespräch. Wann die App veröffentlicht wird, steht zurzeit noch nicht fest.

Kerstin Denecke

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