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«Traditionen sind nicht starr»
07.10.2025 «Das machen wir schon immer so!» Im Gespräch mit Agrarsoziologin Sandra Contzen erfahren wir, warum Traditionen auf Bauernhöfen unverzichtbar sind. Und warum es dennoch Sinn macht, sie regelmässig zu hinterfragen.
Das Wichtigste in Kürze
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Schweizer Landwirtschaftsbetriebe sind stark von familiären und kulturellen Traditionen geprägt – doch jüngere Generationen hinterfragen klassische Rollenbilder und bringen neue Strukturen ein.
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Immer mehr Frauen übernehmen Betriebe und gestalten aktiv den Wandel – gleichzeitig bestehen noch strukturelle Hürden für Sichtbarkeit und Gleichstellung.
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Traditionen bieten Identität und Orientierung, müssen aber mit technologischen, ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft werden, um landwirtschaftliche Betriebe zukunftsfähig zu machen.
Frau Contzen, wenn wir an Bauern und Bäuerinnen denken, kommen uns sofort Traditionen in den Sinn. Welche prägen Schweizer Landwirtschaftsbetriebe?
Schweizer Landwirtschaftsbetriebe werden meist von Familien geführt und der Hof wird traditionell von Generation zu Generation weitergereicht, oft vom Vater auf den Sohn. Dabei werden Werte und Wissen weitergegeben – etwa, welcher Boden sich für welchen Anbau eignet. Auch ein starkes Arbeitsethos prägt das bäuerliche Selbstverständnis: viel Arbeit, wenige Pausen. Diese Tradition scheint aber von der jungen Generation etwas hinterfragt zu werden.
Auch die Rollen sind eher traditionell…
Ja, auch die Rollenverteilung ist häufig noch klassisch – der Mann übernimmt den Hof, die Frau unterstützt. Zudem fällt es der älteren Generation oft schwer, ihr Lebenswerk loszulassen, aufgrund ihrer Identifikation mit dem Betrieb aber auch aus finanziellen Gründen.
Wie entstehen diese Traditionen?
Traditionen entstehen, wenn bestimmte Handlungen über Generationen weitergegeben werden. Oft haben sie einen praktischen Ursprung, weil sie sich als sinnvoll und hilfreich erwiesen haben. Gleichzeitig sind viele Traditionen auch kulturell bedingt und stärken nicht nur Identität und Gemeinschaft, sondern auch die Verbindung zu den Wurzeln und der Geschichte des Betriebs – wie etwa der Alpaufzug. Durch ihre Wiederholung werden sie zur Normalität.
Wie beeinflussen diese Werte den Alltag der Bäuerinnen und Bauern?
Traditionen bieten Orientierung, erleichtern den Alltag auf einem landwirtschaftlichen Betrieb und fördern den Zusammenhalt. Doch Traditionen können auch zur Herausforderung werden, wenn sie als unveränderlich betrachtet werden. Dann schränken sie als «alte Muster» individuelle Entscheidungen ein und behindern die Weiterentwicklung der Landwirtschaft im Grossen.
Was bedeutet es, Traditionen loszulassen oder zu verändern?
Traditionen sind eigentlich nicht starr, sondern wandelbar. Doch Veränderung erfordert Mut. Wer bestehende Strukturen infrage stellt, wird oft kritisch beäugt – gerade auch in bäuerlichen Gemeinschaften, wo die soziale Kontrolle hoch ist. Wer aus der Reihe tanzt, muss mit Ablehnung oder Ausgrenzung rechnen. Zudem bringen Veränderungen auch wirtschaftliche Risiken mit sich, weil traditionelle Praktiken sich bewährt haben und als sicher gelten. Trotzdem können sie Chancen bieten, um alte Strukturen mit frischen Ideen zu verbinden und so neue Wege zu einzuschlagen.
Wie gehen jüngere Generationen mit Traditionen um?
Die jüngere Generation übernimmt Traditionen oft nicht mehr einfach so, sondern passt sie an ihre eigenen Bedürfnisse an. So legt sie zum Beispiel mehr Wert auf die Trennung von Privat- und Berufsleben. Dies zeigt sich etwa in der finanziellen Struktur: Paare gründen GmbHs, bei denen beide als Angestellte arbeiten. Dadurch verändert sich auch die Rolle der Frau, da sie einen eigenen Lohn erhält. Das Aufschlüsseln und Differenzieren der Finanzen machen manchmal sichtbar, dass nicht alle traditionellen Praktiken rentabel sind.
Die jüngere Generation übernimmt Traditionen oft nicht mehr einfach so, sondern passt sie an ihre eigenen Bedürfnisse an.
Welche Rolle spielen Traditionen im Zusammenhang mit Frauen?
Das Rollenverständnis der Frau hat sich verändert. Früher waren Frauen vor allem Bäuerinnen, die in den Betrieb des Mannes eingeheiratet haben und neben Haushalt und Kindern unbezahlt mithalfen. Heute sind die Rollen der Frauen vielfältiger und mehr junge Frauen übernehmen den elterlichen Betrieb. Aber dieser Wandel geht nur langsam voran.
Woran liegt das?
Ein Hindernis dabei ist, dass in vielen Köpfen immer noch die Vorstellung herrscht, die Frau ist die eingeheiratete Bäuerin, während der Mann als Betriebsleiter und Eigentümer gilt. Dass auch Landwirtinnen den Betrieb eigenständig führen, ist noch nicht weit verankert. Das verhindert eine gleichwertige Anerkennung und Sichtbarkeit der Landwirtinnen. Bäuerinnen hingegen bilden eine prominente Gruppe, die mit dem Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverband eine starke Vertretung ihrer Interessen hat.
Was ist mit der älteren Generation?
Heutzutage ziehen sich einige Eltern zurück, wenn die jüngere Generation den Hof übernimmt. Sie schaffen so bewusst Distanz, um den Nachfolger*innen Raum für ihre eigenen Entscheidungen und neue Dynamiken zu geben.
Wie liessen sich Veränderungen noch stärker vorantreiben?
Mit Menschen, die nicht aus Bauernfamilien stammen und frische Ideen haben. Ohne den Druck, Traditionen fortzusetzen, bringen sie neuen Schwung und helfen, alte Muster zu durchbrechen.
Auch die Aussenwelt verändert sich. Wie wirkt sich dies auf die landwirtschaftlichen Traditionen in der Schweiz aus?
Der Klimawandel verändert die Wachstumsbedingungen für viele Pflanzen, was Landwirt*innen dazu zwingt, sich anzupassen und traditionelle Methoden zu überdenken. Auch die Politik mit neuen Gesetzen oder Förderprogrammen beeinflusst, wie Landwirt*innen ihre Betriebe führen. Darüber hinaus spielen gesellschaftliche Erwartungen – wie etwa die Nachfrage nach biologisch produzierten Lebensmitteln – eine zunehmend grössere Rolle. Technologischer Fortschritt, beispielsweise durch automatisierte Maschinen, fordert auf, Produktionsmethoden zu überdenken, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Haben Traditionen in Zukunftsstrategien noch Platz?
Traditionen haben sich aus gutem Grund etabliert, weil sie oft einen praktischen Sinn haben. Doch sollte man sie regelmässig hinterfragen: Sind sie noch hilfreich oder eher hinderlich? Sind sie vorteilhaft, sollte man sie beibehalten. Ein Beispiel: Früher setzte man auf Zweinutzungsrassen, was sich irgendwann änderte, und man spezialisierte sich etwa auf Mastkühe oder Milchkühe. Heute kommen einige wieder von der Spezialisierung weg, um nicht zu viele spezialisierte Kälber zu haben.
Man spricht immer von ökonomischem Output. Was, wenn Traditionen keinen direkten finanziellen Nutzen bringen?
Es gibt Traditionen in der Landwirtschaft, die finanziell nichts bringen, aber eine starke kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung haben, wie etwa der Alpaufzug. Diese Traditionen sollten in Zukunftsstrategien berücksichtigt werden, weil sie zur Identität und Kultur der Landwirtschaft beitragen.
Dass auch Landwirtinnen den Betrieb eigenständig führen, ist noch nicht weit verankert.
Wie lassen sich denn Traditionen mit modernen Entwicklungen verbinden, damit landwirtschaftliche Betriebe für die Zukunft gewappnet sind?
Traditionen mit modernen Entwicklungen zu verbinden, ist anspruchsvoll, aber notwendig. Ein Beispiel ist der Melkroboter. Das Melken ist zeitintensiv und heute können Roboter diese Arbeit übernehmen: Die Kühe gehen selbstständig zum Melken und Landwirt*innen überwachen die Vorgänge über digitale Systeme. Dadurch verschiebt sich der Fokus von körperlicher Arbeit hin zu Datenanalyse. Es bleibt mehr Zeit, um die Tiere gezielter zu beobachten. Dieser Wandel erfordert Bereitschaft, traditionelle Arbeitsweisen loszulassen. Der Schlüssel liegt darin, die positiven Aspekte beider Welten zu verbinden, um für die Zukunft parat zu sein.
Was raten Sie jungen Landwirtinnen und Landwirten, die den elterlichen Betrieb übernehmen und diesen zukunftsfähig machen wollen?
Eine Hofübernahme betrifft das ganze Leben. Deshalb rate ich jungen Landwirt*innen, sich zunächst über ihre eigenen Visionen klar zu werden – nicht nur für den Betrieb, sondern auch fürs eigene Leben und die Familie. Wichtig ist auch, dass man frühzeitig mit den Eltern offen über die eigenen Vorstellungen spricht, um Missverständnisse zu vermeiden. Die Kommunikation fördert auch das Verständnis für die Ansichten der abgebenden Generation. Sind die eigenen Wünsche und die Erwartungen der Eltern unvereinbar, sollte man gut abwägen, ob die Hofübernahme der richtige Schritt ist.