«Es muss nicht immer die Spezialistin sein.»

21.03.2023 Der Gesundheitssektor kämpft seit Langem mit dem Fachkräftemangel. Warum sich dieser hartnäckig hält, wie er sich auf die Sicherheit von Patient*innen und Personal auswirkt und welche Auswege denkbar sind, erfahren wir im Gespräch mit Sabine Hahn (SH) und Christoph Golz (CG).

Links Christoph Gloz und rechts im Bild Sabine Hahn
Prof. Dr. Sabine Hahn, Fachbereichsleiterin Pflege und Dr. Christoph Golz, Leiter Innovationsfeld Gesundheitsversorgung & Personalentwicklung.

Fachkräftemangel und Sicherheit im Gesundheitssektor, wie hängt das zusammen? 

CG: Es ist unbestritten, dass zu wenig Personal oder Personal, das zu wenig gut qualifiziert ist, zu höheren Mortalitätsraten führt. Sicherheit darf allerdings nicht nur auf Patient*innen, sondern muss auch aufs Personal bezogen werden. Denn wenn Fachkräfte überlastet sind, müssen sie unter hohem Zeitdruck und psychischer Belastung priorisieren.  

SH: Genau. Das kann bei Fachkräften zu moralischen Belastungen führen, weil sie ihre Arbeit fachlich nicht mehr gemäss dem Patient*innenbedarf ausführen können und dies den eigenen Wertvorstellungen und den professionellen Ansprüchen nicht genügt. Stress und Frustration bei Fachpersonen sind oft die Folge. Das kann so weit gehen, dass das Personal dem Beruf den Rücken kehrt. 

Welche Rolle spielt Stress beim Fachkräftemangel? 

CG: Im Gesundheitssektor sehen wir vor allem drei Stressoren, die entscheidend sind: Erstens die Vereinbarkeit von Arbeits- und Privatleben, beispielsweise Planungssicherheit und Schichtarbeit fallen hier ins Gewicht. Zweitens die Führung und Führungsqualitäten: Hier ist neben fachlichen Kompetenzen immer mehr emotionale Intelligenz gefragt. Und als Drittes fehlt es oft an Entwicklungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. 

SH: Führungskräfte müssen die Stärken ihrer Mitarbeitenden erkennen und fördern, trotz oder gerade wegen des Fachkräftemangels. Tun sie dies nicht, besteht die Gefahr, dass Mitarbeitende ihren Beruf nicht mehr als Leidenschaft, sondern als 9-to-5-Job erleben.  

Was lässt sich gegen den Stress denn unternehmen? 

CG: Das Forschungsprojekt Strain der BFH hat gezeigt, dass der Stress beim Pflegepersonal erst abgebaut werden kann, wenn Führungskräfte das Problem bei sich im Griff haben. Wir empfehlen daher: Führungskräfte, fangt bei euch an!  

Im Projekt haben wir konkrete Handlungsempfehlungen für Gesundheitsdienstleister entwickelt. Diese deuten an, wie Mitarbeitenden mehr Planungssicherheit gegeben werden kann, etwa mit partizipativer Planung oder indem die Planungstasks delegiert werden. Oder auch das Angebot ganz gezielter Weiterbildungen. Denn diese sind ein Indiz für Wertschätzung.  

Das kostet aber natürlich. Wie können gerade kleinere, finanzschwächere Institutionen Weiterbildungen anbieten? 

SH: Kleinen Institutionen empfehlen wir, bedarfsgerecht weiterzubilden. Und wir stossen immer auch alternative Weiterbildungsformate an. Ob periodische Referate, das gezielte Ausbilden von Einzelpersonen, die das Wissen in den Betrieb einbringen, oder die Kollaboration mit anderen Institutionen. Auch kleine Formate können durchaus etwas bewirken.  

CG: E-Learning ist ebenfalls eine preiswerte und effektive Lösung. An der BFH haben wir etwa versucht, Arbeitnehmende mit E-Learning darauf zu sensibilisieren, nicht krank zur Arbeit zu gehen

SH: Ein weiteres gutes Beispiel ist unser Fachkurs Aggression im Gesundheitswesen fürs Management. Dieser findet grösstenteils online statt, mit E-Learning-Komponenten, die selbstständiges Lernen erlauben. 

Gibt es Dinge, die die Gesundheitsfachkraft selbst unternehmen kann, damit sich ihr Arbeitsalltag verbessert? 

SH: Oft hilft es schon, wenn Fachkräfte die eigenen Grenzen kennen. Wenn man weiss, was man leisten kann und was nicht mehr geht, nimmt das viel Druck weg. 

CG: Es gibt durchaus Wege, die eigene Resilienz zu stärken, Coping-Strategien zu entwickeln und so besser mit belastenden Situationen umgehen zu können. Aber wir dürfen nicht einfach die Verantwortung aufs Individuum schieben. 

Sondern? 

SH: Intensivstationen zeigen, wohin die Reise gehen wird: Hier gibt die Politik klar und einheitlich vor, wie viele Pflegefachkräfte pro Patient*in nötig sind. Diese definierte Patient-Nurse-Ratio schützt das Personal und die Bevölkerung vor Minderversorgung und den damit verbundenen Risiken.  

Welchen Einfluss haben Patient*innen auf den Fachkräftemangel? 

CG: Die Tendenz zeigt, dass viele auch bei Kleinigkeiten auf den Notfall gehen. So wird hochkompetentes Personal für Lappalien gebunden. Wenn sich überqualifizierte Fachkräfte um Wehwehchen kümmern, kostet das Einiges. 

SH: Patient*innen wissen oft schlicht nicht, wohin sie sich wenden können. Wir müssen darum mehr in die Kommunikation von Hausarztmedizin oder des örtlichen Gesundheitszentrums investieren. Es muss ja nicht immer die Spezialistin sein.  

Über uns

Prof. Dr. Sabine Hahn: Fachbereichsleiterin Pflege mit Fokus auf Fachkräftemangel im Gesundheitswesen, neue Rollen, Grademix und Zusammenarbeit, Komplexitätsmanagement, Management, Leadership und Nachwuchsförderung, Innovationsförderung und Innovationsmanagement

Dr. Christoph Golz: Leiter Innovationsfeld Gesundheitsversorgung und Personalentwicklung 

Mehr zum Thema