Geht uns diesen Winter der Strom aus?

26.09.2022 «Die Situation wird im nächsten Winter wohl schwierig werden» so die Einschätzung unseres Spezialisten, Michael Höckel, Professor für Energietechnik an der Berner Fachhochschule. Im Interview spricht er über die Grundlagen der aktuellen Situation der Stromversorgung, ordnet ein und wagt Prognosen.

Zurzeit lesen wir viel über die Engpässe in der Stromversorgung der Schweiz im kommenden Winter. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Eigentlich sind wir in der gleichen Situation wie in jedem Winter. Wir müssen wohl 10–20% der Stromnachfrage durch Importe decken. Im Februar 2017 mussten wir sogar knapp 40% unseres Verbrauchs mit Strom aus dem Ausland abdecken.

Haben wir Grund zur Sorge?

Auf jeden Fall ja. Die Situation wird wohl im nächsten Winter schwierig werden. Die Kraftwerksreserven in Europa scheinen sehr klein zu sein, denn die Preise auf dem Strommarkt haben sich innerhalb von eineinhalb Jahren mehr als verzehnfacht. Deutschland plant zwar 2 seiner 3 letzten Kernkraftwerke länger als bis zum Jahresende weiter zu betreiben, aber – aufgrund des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine – ist unklar wieviel Erdgas und zu welchem Preis für die Verstromung zur Verfügung stehen wird. Und dann ist derzeit auch die Produktion des französischen Kraftwerksparks relativ niedrig.

Beginnen wir bei den Grundlagen: Wie funktioniert die Bedarfsdeckung beim Strom?

Stromverbrauch und Stromproduktion müssen ständig im Gleichgewicht gehalten werden. So kann der Bedarf an Kraftwerksleistung im Winter am Mittag oder Abend sehr hoch sein, während er im Sommer in der Nacht nur ein Drittel von diesem Höchstwert beträgt. Die für die Versorgung mit elektrischer Energie verantwortlichen Unternehmen müssen die Nachfrage für den nächsten Tag planen und viertelstundenscharf mit eigener Produktion, Vertragsbezügen oder Bezügen vom Strommarkt decken. Fehlplanungen oder Ausfälle von Kraftwerken werden über die Netzregelung aufgefangen. Die Höhe der Regelleistung berechnet Swissgrid nach transparenten Kriterien und kauft hierfür Regelleistung bei den Erzeugern ein. Ohne ausreichende Erzeugungsreserven in Europa kann das gesamte Stromnetz zusammenbrechen, was allgemein als Blackout bezeichnet wird. Der schweizerische Kraftwerkspark zeichnet sich dadurch aus, dass prinzipiell sehr viel Leistung in den Speicherkraftwerken zur Verfügung steht. Diese Leistung kann aber nur genutzt werden, wenn genügend Wasser in den Stauseen vorhanden ist. Bei tiefem Füllstand der Stauseen, sind Leistungsreserven nicht oder nicht in ausreichendem Mass verfügbar.

Wer ist für die Stromversorgung zuständig?

Für die ausreichende Versorgung der Kunden in der Grundversorgung mit elektrischer Energie ist seit der Strommarktliberalisierung in 2009 der dem Verteilnetz «assoziierte Vertrieb» verantwortlich. Über das Bilanzgruppensystem sind die jeweiligen Energielieferanten verpflichtet jeweils für den Folgetag einen ausgeglichenen Fahrplan an die Swissgrid zu melden, in welchem sie nachweisen, wie sie die selbst geschätzte Nachfrage durch Erzeugung und Marktbeschaffung ausgleichen. Sind sie nicht in der Lage, den Fahrplan zu erfüllen, beanspruchen sie Regelenergie und Reserveleistung. Diese wiederum wird von den Übertragungsnetzbetreibern in der UCTE (Union for the Coordination of Transmission of Electricity), wie die Swissgrid für die Regelzone Schweiz, ebenfalls nach Marktprinzipien eingekauft und kann dementsprechend teuer sein.

Warum ist die Situation im Winter prekärer?

Im Sommer produzieren die Kraftwerke mehr als in der Schweiz verbraucht wird. Im Winter wird demgegenüber der inländische Strombedarf schon seit Jahrzehnten mit Stromimporten abgedeckt. Die grossen Schwankungen ergeben sich durch die Zuflüsse zu unseren Wasserkraftwerken, Nichtverfügbarkeiten, also Ausfällen, von eigenen Kraftwerken und vor allem durch die Schwankungen bei der Stromnachfrage, die stark von der Temperatur beeinflusst werden.

Was ist dieses Jahr anders?

Die Stromimporte haben bislang kein grosses Kopfzerbrechen bereitet, weil die Schweizer Stromversorger einerseits durch diverse Beteiligungen am französischen Kraftwerkspark eigene Importquellen gesichert haben und auf der anderen Seite unsere Nachbarn in Europa grosse eigene Reservekraftwerke hatten, welche auch bei einer hohen Stromnachfrage in Europa elektrische Energie zu günstigen Preisen verkauft haben. Im letzten Jahr hat sich die Situation allerdings sehr verändert. Gemäss dem Ausstiegsplan aus der Kernenergie in Deutschland sollten zum Jahreswechsel die letzten Kernkraftwerke stillgelegt werden. Die Produktion aus Öl- und Gaskraftwerken ist sehr teuer geworden. Zudem wies der französische Kernkraftwerkspark über den gesamten Sommer eine tiefe Verfügbarkeit auf. Im kommenden Winter drohen Lieferengpässe beim Erdgas, wodurch die Verstromung eventuell nicht, bzw. nicht im gewohnten Umfang möglich sein wird. Es besteht also ein gewisses Risiko, dass kurzfristig elektrische Energie nicht oder nur sehr teuer im Ausland eingekauft werden kann und so eine Strommangellage in der Schweiz entsteht.

Welche Rolle kommt dem Bund zu?

Die Stromversorgung wird entscheidend von Politik und Gesellschaft beeinflusst. Der Bund hat den Weg freigegeben, dass grössere ölgefeuerte Reservekraftwerke gebaut werden und auch betrieben werden dürfen. Sie sollen bis zur Mitte des Winters bereit sein. Zudem schätzt man, dass bereits Notstromaggregate mit einer installierten Leistung in Grössenordnung des KKW Gösgen vorhanden sind. Durch die prekäre Situation ist die Organisation für die Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen (OSTRAL) aktiv geworden. Sie untersteht der wirtschaftlichen Landesversorgung des Bundes und wird auf deren Anweisung aktiv, wenn eine Strommangellage eintritt. Sie hat ein vierstufiges Massnahmensystem. Die erste Massnahme ist Information und Sensibilisierung zum Stromsparen. Die letzte Massnahme wären zyklische Netzabschaltungen. Niemand weiss aktuell, wie gut die Massnahmen wirken werden, aber ich denke nicht, dass Netzabschaltungen notwendig sein werden.

Welche Rolle spielen Notstromaggregate?

Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass die Stromversorger eine 100-prozentige Versorgungssicherheit nie, also auch nicht ausserhalb von Mangellagen, garantieren und dies auch nicht müssen. Die Stromkunden müssen jederzeit mit mehrstündigen Unterbrüchen ihrer Stromversorgung rechnen und für diese Fälle auch selbständig Vorkehrungen treffen. Für Netzkunden, die einen Stromunterbruch nicht akzeptieren wollen oder können, weil sie beispielsweise empfindliche Prozesse haben oder systemrelevant sind, ist natürlich der Einsatz von USV bzw. Notstromgeräten absolut notwendig. Es gibt Hochrechnungen, dass in der Schweiz Notstromaggregate mit einer Gesamtleistung von bis zu 1GW (KKW Gösgen oder Leibstadt) vorhanden sind. Es ist abzuklären, wie und mit welchen technischen und regulatorischen Massnahmen diese Anlagen zur Bewältigung von Strommangellagen genutzt werden könnten.

Welche Auswirkungen hat die momentane Situation auf den Stromtarif?

Bei Elektrizitätswerken mit viel eigener Produktion oder einer langfristigen Beschaffungsstrategie bleiben die Tarife relativ unverändert. Andere Werke mit einer eher kurzfristigen Strombeschaffungstaktik wurden von der Dynamik überrumpelt und müssen nun teuer einkaufen. Sie haben die Risiken der Marktbeschaffung also unterschätzt. Diejenigen Unternehmen, die über wenig eigene Erzeugung bzw. keine langfristigen Bezugsverträge verfügen, haben teilweise ausserordentlich hohe Kosten für die Energiebeschaffung und sind gezwungen ihre Tarife entsprechend zu erhöhen.

Was ist Ihre Einschätzung für die mittel- bis langfristige Situation?

Da der Bedarf an elektrischer Energie durch Wärmepumpen und die Elektromobilität im Winter weiter steigen wird, und mittel- bis langfristig die inländische Stromproduktion aus Kernenergie wegfallen wird, ist es dringend notwendig, weitere Erzeugungskapazitäten aufzubauen. Es gilt nun die Energiestrategie 2050 so rasch wie möglich umzusetzen. Das grösste realisierbare Potenzial hat die Photovoltaik. Auch wenn vermehrt PV-Anlagen in Richtung Winterstrom ausgelegt werden, werden die Überschüsse im Sommer und die Unterdeckung im Winter bleiben bzw. weiter zunehmen. Durch die Umsetzung der diversen Stauseeprojekte und Speichererweiterungen können Beiträge zur Bedarfsdeckung im Winter erwartet werden. Die Elektromobilität könnte Reserveenergie und -leistung zur Verfügung stellen, welche sicherlich für die Anpassung der zukünftig variierenden Einspeisung aus PV an den Bedarf dringend notwendig ist. Immerhin könnte man mit einem elektrischen Personenwagen eine Familie eine ganze Woche mit Strom versorgen. Welche Rolle zukünftig die Windenergie spielt, hängt von vielen äusseren Faktoren ab. Zudem ist die Produktion in Windparks an geeigneten Standorten im Ausland im Vergleich zum Inland zu wesentlich tieferen Gestehungskosten möglich. Langfristig ist auch zu erwarten, dass die Nutzung von synthetischen Brennstoffen aus erneuerbaren Energiequellen bei der Energieversorgung eine Rolle spielen wird. Wasserstoff kann über Elektrolyse mit den Stromüberschüssen im Sommer produziert werden und kann dann Brennstoffzellen in der Mobilität und für die gekoppelte Strom- und Wärmeproduktion im Winter genutzt werden.

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Staumauer und Stausee Oberaar. Foto: Kraftwerke Oberhasli AG / Robert Bösch

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