Notstand in der Jugendpsychiatrie: Wie ein Netzwerk Abhilfe schaffen soll

01.05.2023 Junge Menschen mit psychischen Problemen bleiben in akuten Krisen zu oft sich selbst überlassen. Für sie gibt es zu wenige therapeutisch ausgebildete Fachärztinnen und Psychologen oder Plätze in geeigneten Institutionen. Schnelle Lösungen tun not. Ein Netzwerk, an dem die BFH beteiligt ist, sucht nach Wegen für niederschwellige Hilfe und Prävention.

Stationäre Aufenthalte im Spital, die auf psychische Erkrankungen zurückgehen, sind 2021 in «beispielloser» Weise angestiegen, insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen (BfS, 2022). Wie das Bundesamt für Statistik Ende 2022 mitteilte, hatten die Spitaleinweisungen aufgrund von Suizidversuchen in der Altersgruppe der 10- bis 24-Jährigen um 26 Prozent zugenommen. Einen Zuwachs gab es auch bei männlichen Jugendlichen (6%). Insgesamt waren im Jahr 2021 schweizweit 19 532 Personen der genannten Altersgruppe wegen psychischer Erkrankungen hospitalisiert worden. Auch wurden deutlich mehr ambulante psychiatrische Behandlungen im Spital verzeichnet (+16% gemäss BfS, 2022).

Diese Zahlen sind Ausdruck einer grossen Notlage und zeigen, dass jetzt schnell nach Lösungen gesucht werden muss. Wichtig sind dabei nicht zuletzt Sozialarbeitende – aber der Reihe nach...

Welche Entwicklungen stecken hinter den Zahlen?

Rund 15 Jahre dauert die Übergangsphase, in der sich der Mensch vom Kind zum Erwachsenen entwickelt. Diese Zeit bringt zahlreiche Veränderungen mit sich und verlangt der Person viel ab: Sie muss sich immer wieder anpassen, orientieren und finden. Dies fordert jeden Einzelnen anders, kann verunsichern und psychisch belasten (Wieber et al., 2021; Schweizerische Ärztezeitung). Werden entsprechende Symptome nicht behandelt, können sich Krankheiten entwickeln und chronisch werden. Neben dem individuellen Leiden belastet dies das gesamte Umfeld der Person in hohem Mass und generiert enorme volkswirtschaftliche Kosten.

Entwickelt ein Kind Auffälligkeiten, bemerken dies zuerst Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld wie Familienangehörige, Lehr- und Betreuungspersonen oder Kinderärzt*innen. Die nächsten Schritte können ein Gespräch mit eine*m*r Schulsozialarbeitenden, eine*m*r Jugendarbeitenden im Quartier, einer Erziehungsberatungsstelle, einer psychologischen Fachperson oder eine*m*r psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachärzt*in sein. 

Es gäbe also eine ganze Reihe von Institutionen, die aktiv werden können, bevor ein Kind wegen psychischer Probleme stationär behandelt wird. Niederschwellige Angebote gibt es in den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit. Allerdings sind einige dieser Stellen stark gefordert. So geht es beispielsweise den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) des Kantons Bern, die in ihrem Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Bern seit Dezember 2022 keine neuen Fälle mehr aufnehmen können (Bund/Berner Zeitung, 2022). 

Ein Grund für den Notstand ist der Fachkräftemangel, der auch die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung betrifft. Gesellschaftliche Krisen verstärken das Problem: Uns alle bedrückt eine Multikrise aus Klimawandel, Pandemie und Ukrainekrieg. Arbeitnehmende leiden unter einer zunehmenden Verdichtung der Erwerbsarbeit, die auch Eltern verstärkt unter Druck setzt. Nicht zuletzt ist der Bereich Prävention unzureichend ausgestattet. 

Die Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen bringt viele Veränderungen, diese zu verarbeiten  fällt nicht immer leicht.
Die Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen bringt viele Veränderungen, diese zu verarbeiten fällt nicht immer leicht.

Was kann ein Netzwerk bewirken?

«Zurzeit ist die Angebotslandschaft zur Prävention und Unterstützung von Jugendlichen mit psychischen Belastungen unübersichtlich», sagt Regina Jenzer, BFH-Dozentin im Kindes- und Erwachsenenschutz. Doch nun bewegt sich etwas: Im November 2021 kontaktierte die im Kanton Bern selbständig praktizierende Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie FMH Dr. med. Cornelia Hediger verschiedene Institutionen, darunter die BFH. Hediger hatte die Idee, Fachpersonen aus relevanten Bereichen zusammenzubringen und ein multiprofessionelles Netzwerk für psychische Gesundheit im Jugendalter im Kanton Bern zu gründen. Gemeinsam mit weiteren Beteiligten wurde Ende 2021 ein erstes Netzwerktreffen organisiert. 

Mittlerweile sind über vierzig Schlüsselfachpersonen dabei: selbständig tätige Ärzt*innen, Vertretungen aus Hochschulen und Institutionen. Dazu kommen Verantwortliche seitens der Behörden aus den Bereichen Soziales, Bildung und Gesundheit. Diese Fachleute haben sich 2022 viermal getroffen. Die Treffen fanden am Departement Soziale Arbeit statt, organisiert und durchgeführt von Dr. med. Cornelia Hediger (Bernische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie BGKJPP), Regina Jenzer (BFH), Prof. Dr. Frank Wieber (Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW), Urs Ammon (Kinder- und Jugendfachstelle Aaretal) und Cristina Spagnolo (Berner Gesundheit). Bisher sind die Netzwerktreffen nur möglich, weil sich einige der beteiligten Fachpersonen in bemerkenswerter Weise engagieren (vgl. Interview mit Dr. med. Cornelia Hediger).

Einen Notstand, wie es ihn im Kanton Bern gibt, kennen auch andere Kantone. Zürich ist dabei, ein ähnliches Netzwerk aufzubauen. Mit dieser Vernetzung soll insbesondere die Brücke von der Bildung und der Sozialen Arbeit zu Fachkräften im medizinischen und psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachbereich geschlagen werden. Die Netzwerktreffen werden für fachliche Inputs zu spezifischen Themen sowie zur Bekanntmachung von Angeboten genutzt. 
Ziel ist, dass alle Beteiligten durch die gewonnenen Erkenntnisse und die Vernetzung in der Lage sind, ihren Klient*innen die passenden Hilfen anzubieten oder Angebote zu vermitteln.

Dem Notstand wird also mit niederschwelligen Angeboten, guter Vernetzung und Prävention begegnet. Sofortmassnahmen, die das Netzwerk anstrebt, zielen unter anderem darauf, Jugendliche und junge Erwachsene in ihrer Freizeit besser zu erreichen. Zudem hat das Netzwerk 2022 diverse Arbeitsgruppen sowie Fallbesprechungen oder Supervisionen für Lehrpersonen und das Symposium der Berner Gesundheit angestossen und mitumgesetzt.

Peer-to-Peer-Projekt für 16- bis 25-Jährige

Es entstanden verschiedene Projektideen. Am weitesten fortgeschritten ist das Projekt «wellguides.ch – Junge Menschen informieren über psychische Gesundheit und Angebote», ein Peer-to-Peer-Projekt, das von der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz finanziell unterstützt wird. Die BFH und die ZHAW haben gemeinsam die Leitung übernommmen. Darin werden Jugendliche und junge Erwachsene als Multiplikator*innen ausgebildet, um Gleichaltrige über Angebote und Gesundheitskompetenzen zu informieren. Das Projekt zielt auf die Sekundarstufen 1 und 2 (Volks-, Berufs- und Mittelschulen) sowie Hochschulen ab. 

Als erstes erarbeiteten die Projekt-Verantwortlichen eine digitale Übersicht zu Angeboten, die die psychische Gesundheit Jugendlicher und junger Erwachsener fördern. Berücksichtigt wurden spezifische Hilfen bei psychischen Belastungen für die Kantone Zürich und Bern sowie nationale Angebote, die online verfügbar sind. 

Da es sehr viele niederschwellige Angebote gibt, sei die Bestandsaufnahme der erste Schritt, sagt Co-Projektleiterin Regina Jenzer. Nun soll die Angebotsübersicht in Form einer Website zugänglich gemacht werden. Parallel dazu werden Schulungsmaterialien konzipiert, und es wird ein E-Learning-Modul entwickelt. Gemeinsam mit den jungen Menschen entwickeln Forschende und am Netzwerk beteiligte Fachpersonen Grundlagen, damit Schüler*innen als Multiplikator*innen für psychische Gesundheit und Gesundheitskompetenzen andere Schüler*innen sensibilisieren und Informationen zu frühen Hilfsangeboten vermitteln können. Anfang 2024 soll das Pilotprojekt starten. Fällt dieses erfolgreich aus, kann es als Grundlage für eine Ausweitung des Angebots auf weitere Kantone dienen.

Warum es aus Sicht einer Fachärztin das multiprofessionelle Netzwerk braucht

Cornelia Hediger, wie kam es zur Idee für ein multiprofessionelles Netzwerk?

Als Fachärztin erlebe ich deutlich, wie psychische Belastungen junger Menschen und die Versorgungskrise zunehmen. Nach längeren Überlegungen entstand die Idee, wegen der knappen psychiatrisch-psychotherapeutischen Ressourcen ein Netzwerk zu initiieren, um Fachwissen, Ressourcen und Projektideen zu multiplizieren. Wenn sich verschiedene Player im Jugendbereich intensiver koordinieren, werden Angebote und Anliegen besser kommuniziert. 

Dr. med. Cornelia Hediger, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie FMH
Dr. med. Cornelia Hediger ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie FMH mit selbstständiger Praxis im Kanton Bern.

Sie wollten erreichen, dass alle an einem Strang ziehen?

Ja, denn aufgrund meiner jahrelangen Berufserfahrung war mir klar, dass, neben einer Ausbildungsoffensive beim psychiatrisch-psychotherapeutischen Nachwuchs, dringend auch bei der Gesundheitsförderung, der Prävention, der Früherkennung und der Frühintervention angesetzt werden muss. In der aktuellen Versorgungskrise braucht es eine alltagsnahe koordinierte Vermittlung von Wissen zu psychischer Gesundheit und Angebote von frühen Hilfen. Bestehende Angebote müssen bekannter und der Versorgungspfad optimiert werden. Dadurch wird die nachfolgende Versorgungskette auch längerfristig entlastet. Direkte wie indirekte wirtschaftliche Folgekosten können eingespart und psychisches Leid vermindert werden.

Warum geht es den Jungen heute so schlecht?

Junge Menschen haben Ressourcen, doch Mehrfachbelastungen können psychische Symptome auslösen, wie Ängste, depressive Stimmung, Gereiztheit, sozialen Rückzug, Kopf- oder Bauchschmerzen, Leistungsabfall, ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Schlimmstenfalls führen diese Symptome zu psychischen Erkrankungen und zu Krisensituationen mit Suizidgedanken. Die Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit sind vielfältig, komplex und auch gesellschaftlich beeinflusst. Gerade das Kindes- und Jugendalter ist wegen vielfältiger Entwicklungsaufgaben besonders herausfordernd.

Was hilft Kindern und Jugendlichen in dieser Situation?

Um eine Chronifizierung zu verhindern, müssen psychische Belastungsanzeichen früh erkannt werden. Das ist herausfordernd, braucht ein sensibilisiertes Umfeld und Zugang zu frühen adäquaten Hilfen. Doch Schulsozialarbeit ist noch nicht flächendeckend verankert, ambulante Angebote und Zuweisungswege sind zu wenig bekannt und die Wartezeiten sind zu lang. 

Warum das?

Der bestehende Fachkräftemangel, kombiniert mit kantonalen Sparmassnahmen im Bereich der Gesundheitsversorgung, trifft auf eine zunehmende Anzahl Fach­ärzt*innen, die sich dem Pensionsalter nähern oder dieses bereits erreicht haben. So ging es auch mir: Nach der Pensionierung meiner Arbeitskollegin konnten wir keine Nachfolge finden. Wegen der Multikrisen steigt der Bedarf nach psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen, was die langen Wartezeiten akzentuiert. Dies wiederum belastet Betroffene, ihre Familien und involvierte Fachkräfte noch stärker. Es kommt zu Krisensituationen, die schliesslich stationärer psychiatrischer Behandlung bedürfen.

Die Netzwerktreffen waren bisher nicht finanziert. Was bedeutet das für Sie?

Es bedeutet für mich einen sehr grossen Einkommensausfall. Bisher habe ich weit mehr als 300 unbezahlte Arbeitsstunden in den Aufbau des Netzwerks, dessen Weiterentwicklung und in gewisse daraus entstandene Arbeitsgruppen investiert. Doch ich bin positiv und denke, dass es der Co-Projektleitung gelingen wird, eine Finanzierung für die fünf selbständig tätigen Ärzt*innen, die sich im Netzwerk engagieren, aufzutreiben, oder vielleicht melden sich Stiftungen aufgrund dieses Artikels. 

Was erhoffen Sie sich von der weiteren Zusammenarbeit im Netzwerk?

Dass das Potenzial des Netzwerks als fachlicher Wissens- und Ideenpool von kantonalen und nationalen Entscheidungsträger*innen rechtzeitig erkannt wird. Es treibt die Entwicklung interdisziplinärer Strategien und Massnahmen zu psychischer Gesundheit koordinierter voran. Es kann Grundlagen sowie Informationen für politische Entscheidungsträger*innen schaffen, damit möglichst viele Betroffene und auch die Wirtschaft davon profitieren können. 

Anmerkung d. Red.: Die Finanzierung des Netzwerkes ist bis heute nicht geklärt. Interessierte Stellen melden sich bitte bei Regina Jenzer.

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Fachgebiet: Caring Society + Alter, Schulsozialarbeit + Jugendarbeit
Rubrik: Institut Kindheit, Jugend und Familie