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Das Leid der ukrainischen Bauern
05.07.2023 Der Krieg hat den Agrarsektor der Ukraine stark beeinträchtigt. Produktionsprobleme verschärfen sich, während die Besatzer wichtige landwirtschaftliche Mittel stehlen und Äcker verminen. Die Prognosen sind düster.
Autor*innen: Svitlana Yaroshchuk (Sumy National Agrarian University), Roman Yaroshchuk (Sumy National Agrarian University), Jan Grenz (BFH-HAFL), Mariana Melnykovych (BFH-HAFL)
Dieser Text erschien im infoHAFL, Ausgabe 1/2023.
Seit Februar 2022 tobt in der Ukraine ein brutaler Krieg, der nicht nur zahllose Menschenleben zerstört, sondern auch die Wirtschaft des Landes, insbesondere den Agrarsektor, schwer belastet. Dieser trägt fast 10% zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei, beschäftigt 18% der Arbeitskräfte und macht 44% des Exportwerts aus.
Als Mitglied der Welthandelsorganisation und EU-Handelspartnerin nimmt die Ukraine eine wichtige Position auf dem globalen Markt ein. Sie ist eine bedeutende Produzentin und Exporteurin von Getreide, Ölsaaten, Öl, Mehl und tierischen Erzeugnissen. Dank ihrer fruchtbaren Schwarzerdeböden ist sie als Kornkammer der Welt bekannt. Im Jahr 2019 wurden 57% ihrer Fläche für den Anbau von Kulturpflanzen genutzt. Das Land war beispielsweise für rund 30% des globalen Angebots an Sonnenblumenöl verantwortlich.
Blockierte Waren
Der Krieg führte dazu, dass mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten in den Häfen von der Ausfuhr blockiert wurden. Vor dem Krieg wurden mehr als 75% des Aussenhandels über Seewege abgewickelt. Doch jetzt sind die Häfen unpassierbar und die Getreideexporte sanken von 5 Millionen auf 500 000 Tonnen pro Monat.
Alternative Logistikwege mussten her, doch sie sind schwierig zu etablieren: Die Bahnhöfe an den europäischen Grenzen haben eine geringe Kapazität, und die unterschiedlichen Spurweiten erfordern das Umladen der Waggons, was Zeit und Ressourcen in Anspruch nimmt. Darüber hinaus führt der verstärkte Einsatz von LKW-Transporten zu Problemen im Strassenverkehr.
Mehr Infos zum Ukraine-Mobilitätsprogramm
Dieser Artikel entstand im Rahmen des Mobilitätsprogramms der BFH. Die Initiative bot vier ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Anfang Jahr die Möglichkeit eines Kurzzeitaufenthalts in der Schweiz. Sie zielt darauf ab, die Zusammenarbeit zwischen der BFH-HAFL und forst- und landwirtschaftlichen Institutionen in der Ukraine zu fördern, neue Netzwerke und Kooperationen mit der Schweizer Forschungs- und Bildungsgemeinschaft zu entwickeln, gemeinsame Projekte mit Mitarbeitenden der BFH-HAFL zu ermöglichen und Aktivitäten zum Kapazitätsaufbau durchzuführen. Das Programm ermöglicht es den ukrainischen Kolleginnen und Kollegen auch, ihre berufliche Tätigkeit an ihren Heimatinstitutionen fortzusetzen und dabei die Infrastruktur der BFH-HAFL während des Winters und des Strommangels zu nutzen. «Das Mobilitätsprogramm bot den ukrainischen Forschenden eine willkommene Ablenkung von den anhaltenden Konflikten und dem Mangel an Grundbedürfnissen in ihrer Heimat und gab ihnen ein Gefühl der Unterstützung und Bedeutung», sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin Mariana Melnykovych, die an der BFH-HAFL massgeblich am Aufbau des Programms beteiligt ist.
Weiterführende Informationen:
Alles ist knapp – von Treibstoff über Saatgut bis hin zu Pflanzenschutzmitteln und Mineraldünger. Die Treibstoffknappheit wird voraussichtlich bis zum Ende des Krieges andauern, da Russland weiterhin Ölreserven und Versorgungswege zerstört. Die Ukraine muss den Treibstoff aus Europa importieren, was zu höheren Preisen führt.
Berichten zufolge sind etwa 40% des ukrainischen Territoriums vermint. Die Besatzer haben wichtige landwirtschaftliche Mittel und Maschinen gestohlen. Die ständigen Stromausfälle haben auch zu erheblichen Produktionsproblemen geführt, 18% der Produzenten haben ihre Arbeit bereits eingestellt, da sie nicht über alternative Stromquellen verfügen. Die Logistik- und Rohstoffprobleme wurden durch den Währungsverfall verschärft, was den Bau von Verarbeitungsbetrieben erschwert hat. Das Klima und die Verschlechterung der Bodenqualität waren bereits zuvor ernsthafte Probleme. Jetzt stehen die Landwirtinnen und Landwirte von allen Seiten unter Druck. Diejenigen mit begrenzten finanziellen Mitteln sind akut vom Bankrott bedroht.
Auch die Schweiz hilft
Bis November 2022 belief sich der Geldwert der Sachanlagen, die durch den Krieg in der Ukraine zerstört, gestohlen oder beschädigt wurden, auf 6,6 Milliarden Dollar – was knapp einem Viertel des gesamten Kapitalstocks des Sektors entspricht. Die Prognosen für die Erträge sind düster. Begrenzte Finanzierung und der Mangel an Betriebsmitteln werden voraussichtlich zu einem Rückgang der Erträge um 10-30% führen. Die prognostizierte Getreideernte könnte um 37% geringer ausfallen als im Jahr 2022 und um 60% geringer als 2021.
Die Ukraine ist stark auf Hilfe von aussen angewiesen. Auch die Schweiz bemüht sich. Im Rahmen der Konferenz über den Wiederaufbau der Ukraine in Lugano im Juli 2022 verpflichtete sich der Bund, bis Ende 2023 mehr als 100 Millionen Schweizer Franken für die Unterstützung des Landes bereitzustellen. Das Massnahmenpaket umfasst auch Beiträge von 2,5 Millionen für Milchviehbetriebe in den am stärksten vom Krieg betroffenen Regionen.
Im Mai 2023 fand das ukrainisch-schweizerische Wirtschaftsforum in Lugano statt, bei dem Branchenführer, Investorinnen und Investoren sowie Regierungsvertreterinnen und -vertreter aus der Schweiz und der Ukraine zusammenkamen, um konkrete Projekte zur Unterstützung der Ukraine zu beschliessen.