• Story

Nicht-binäre Menschen: «Es ist (…) eine Gratwanderung.»

08.05.2025 Wie leben nicht-binäre Menschen in der Schweiz? In ihrer Bachelor-Thesis hat Manuela Wiedmer die Lebensrealitäten von Menschen untersucht, die sich ausserhalb der binären Geschlechterordnung verorten. Sie schreibt im folgenden Beitrag über die Erkenntnisse und zeigt den Handlungsbedarf für die Soziale Arbeit auf.

Autorin

Manuela Wiedmer, Bachelor Soziale Arbeit

Das Wichtigste in Kürze

  • Nicht-binäre Menschen in der Schweiz wünschen sich Sichtbarkeit, gleichzeitig ist ihr Alltag in beinahe allen Lebensbereichen geprägt von Stigmatisierung und Diskriminierung. 

  • Um dies zu bewältigen, entwickeln sie komplexe Strategien, was emotional und mental äusserst belastend ist.

  • Damit sich die Situation für nicht-binäre Menschen in der Schweiz bessert, braucht es ihre rechtliche Anerkennung, Unterstützungsangebote und vor allem Sensibilisierungsarbeit, denn Geschlechtervielfalt ist eine Realität.

Nicht-binäre Menschen sind eine geschlechtliche Minderheit. Einzelne quantitative Studien zeigen, dass diese Minderheit sehr häufig unter Diskriminierung und Gewalt leidet, ein stark erhöhtes Risiko für Depressionen und Suizidalität aufweist und wenig Unterstützung aus dem sozialen Umfeld erhält (Hässler & Eisner, 2022, 2024; Krüger et al., 2023). Dennoch sind die Lebensrealitäten von nicht-binären Menschen in der Schweiz und auch im internationalen Kontext kaum erforscht.

Nicht-binäre erleben täglich subtile Abwertung

Mit meiner qualitativen Bachelor-Thesis wollte ich dazu beitragen, diese Forschungslücke zu schliessen. Ich untersuchte, welche Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen nicht-binäre Menschen in der Schweiz machen – und welche Ressourcen und Strategien sie im Umgang mit diesen Herausforderungen nutzen. Dafür habe ich semistrukturierte Leitfadeninterviews mit vier Personen geführt, die sich selbst als nicht-binär identifizieren. Die Auswertung erfolgte nach der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz (Kuckartz & Rädiker, 2022).

Die Ergebnisse machen deutlich, dass nicht-binäre Menschen in beinahe allen Lebensbereichen mit Diskriminierung und Stigmatisierung rechnen müssen. Sichtbar wird auch die Spannweite der Erfahrungen: Sie reichen von Gewalt, Bedrohung, rechtlicher Nichtanerkennung, offener Diskriminierung bis hin zu subtileren Abwertungs- und Ausgrenzungsmechanismen. Dazu gehören abwertende Blicke und Kommentare, Unsichtbarkeit sowie sprachlich falsch angesprochen zu werden (Misgendering). Zudem werden sie in ihrer Geschlechtsidentität selten ernstgenommen und müssen sich deshalb  dafür rechtfertigen und ihre Nicht-Binarität erklären und beweisen.

Ich [werde] ja sprachlich grundsätzlich eigentlich in 999 von 1000 Fällen mal falsch angeredet.

  • Aussage einer interviewten Person
Junge Menschen im Gegenlicht von hinten
Nicht-binären Menschen sieht man nicht an, ob und dass sie nicht-binär sind.

Im Umgang mit diesen herausfordernden Erfahrungen sind Akzeptanz und Unterstützung des unmittelbaren sozialen Umfelds besonders wichtig – von Menschen aus dem  privaten Umfeld, vom Arbeits- oder Bildungsort aber auch von der queeren Community mit ihren Safer Spaces. 

[…] [E]s ist einfach gut zu wissen, dass jemand mich gern hat […] und dass die Identität keine Rolle spielt.

  • Aussage einer interviewten Person

Die Bedürfnisse nach Authentizität und Schutz kollidieren

Insgesamt wird deutlich, dass sich für nicht-binäre Menschen ein Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit auftut. Sie wünschen sich Authentizität, was aber allzu oft dem Bedürfnis nach Schutz widerspricht: sind sie als nicht-binär erkennbar, erhöht sich die Gefahr für Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen, verbergen sie jedoch ihre Geschlechtsidentität, dann werden sie als Mann oder Frau wahrgenommen und erfahren Unsichtbarkeit und Misgendering. 

[M]an überlegt sich halt, wie weit kann ich gehen, ohne dass ich nachher irgendwie beschimpft werde […]. Ich halte es immer so, dass ich das Kritiklevel low […]halte, weil ich einfach weiss, […] ich bin im Moment nicht ready [da]für. Und gleichzeitig, je lower ich es behalte, desto eher [werde ich] […] dann halt misgendert. […] [Das ist] die Gratwanderung, die du halt machst, […] [es] ist einfach nervig und anstrengend.

  • Aussage einer interviewten Person
Würfel Selbstbestimmungsgesetz
Seit Anfang 2024 ist in Deutschland das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Seither kann dort der Geschlechtseintrag weiblich, männlich, divers oder keine Angabe lauten. In der Schweiz sind nur die Geschlechtseinträge männlich und weiblich anerkannt.

Die Ergebnisse meiner Arbeit stehen nicht isoliert da: Eine Schweizer Studie von Schaad et al. (2025), die kurz nach der Einreichung meiner Thesis publiziert wurde, gelangt zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Auch sie beschreibt, wie nicht-binäre Menschen ständig strategisch navigieren und das Umfeld bezüglich ihrer Möglichkeiten prüfen. Die Studie erwähnt als Folgen signifikante emotionale Belastung und mentale Erschöpfung.

Was die Soziale Arbeit tun kann

Um nicht-binäre Menschen zu unterstützen, braucht es das Engagement der Sozialen Arbeit. Fachpersonen der Sozialen Arbeit müssen sich mit den Lebensrealitäten nicht-binärer Menschen auseinandersetzen und bereit sein, das binäre Geschlechtersystem zu hinterfragen. Dafür braucht es eine Sensibilisierung, auch für gendersensible Sprache, etwa in der Aus- oder Weiterbildung.

Weiter sollten Angebote der Sozialen Arbeit auf ihre Zugänglichkeit und Wirkung für nicht-binäre Menschen geprüft und bei Bedarf angepasst werden. In einzelnen Handlungsfeldern – etwa in der Jugendarbeit oder in stationären Einrichtungen – kann die Schaffung von Safer Spaces sinnvoll sein. Dabei ist stets abzuwägen, wie solche spezifischen Angebote in das langfristige Ziel der gesellschaftlichen Normalisierung von Geschlechtervielfalt einzubetten sind.

Zudem sollte sich die Soziale Arbeit als Profession mit gesellschaftsgestaltendem Auftrag für die rechtliche Anerkennung von mehr als zwei Geschlechtern einsetzen und sich aktiv an der Entwicklung von Programmen beteiligen, die Geschlechtervielfalt sichtbar machen und Vorurteile abbauen. Erst wenn sich die strukturellen Bedingungen verändern, kann sich das Spannungsfeld, in dem sich nicht-binäre Menschen bewegen, auflösen. 

Hilfreiche Literatur für Fachpersonen der Sozialen Arbeit

Quellen

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