«Der Anspruch der AHV, existenzsichernd zu sein, wird immer weniger eingelöst»

23.01.2024 Am 3. März 2024 entscheiden die Stimmberechtigten über zwei AHV-Initiativen. Im Interview zeigt Tobias Fritschi, Leiter des Instituts Soziale Sicherheit und Sozialpolitik an der BFH, die aktuellen Herausforderungen der Sozialversicherung auf und nennt Lösungsmöglichkeiten.

Tobias Fritschi, hat die AHV aus Expertensicht ein Problem?

Ja, die AHV ist tendenziell unterfinanziert. Die laufenden Einnahmen aus den Lohnbeiträgen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden sowie der Mehrwertsteuer liegen unter den Ausgaben für die laufenden Renten. Dies wird insbesondere ab 2030 zum drängenden Problem, da bis dahin geburtenstarke Jahrgänge, die sogenannten «Boomer» pensioniert werden.

Kann die AHV ihre Aufgabe denn noch wahrnehmen?

Der Anspruch der AHV, existenzsichernd zu sein, wird immer weniger eingelöst. In den letzten Jahrzehnten ist die Ersatzquote, also der Anteil der AHV-Rente am letzten verdienten Einkommen, gesunken.

Welche Rolle spielt die AHV denn in der Finanzierung der Rente?

Die AHV-Renten spielen in Abhängigkeit der Höhe der Einkommen eine unterschiedlich wichtige Rolle. Für die unteren zwei Drittel der Einkommensverteilung der Rentner*innen liegt der Anteil der AHV-Rente am Einkommen bei mehr als der Hälfte. Bei den ärmsten 15 Prozent der Rentenbevölkerung stammen bis drei Viertel der Einkommen aus der AHV. Die AHV ist für viele entscheidend zur Bestreitung des Lebensunterhaltes. Mit steigendem Einkommen nimmt der Anteil der AHV-Renten am Gesamteinkommen ab. Bei Wohlhabenden stammt ein deutlich grösserer Teil der Rente aus der 2. Säule (BVG).

Abstimmung über zwei AHV-Initiativen

Am 3. März stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über zwei Volksinitiativen ab, die die AHV betreffen:

  • Die AHV-Initiative «Für ein besseres Leben im Alter» verlangt, dass alle Rentner*innen Anspruch auf eine 13. AHV-Rente haben. Sie wurde vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund im Mai 2021 eingereicht. Bundesrat und Parlament empfehlen die Ablehnung der Initiative. Sie sehen finanziell keinen Spielraum für eine zusätzliche 13. AHV-Altersrente.
  • Die Renteninitiative der Jungfreisinnigen verlangt die Erhöhung des Rentenalters von Männern und Frauen auf 66 Jahre, anschliessend soll das Rentenalter mit der Lebenserwartung weiter steigen. Sie wurde im Juli 2021 eingereicht. Bundesrat und Parlament empfehlen die Ablehnung der Renteninitiative. Eine Koppelung des Rentenalters an die Lebenserwartung berücksichtigt weder die sozialpolitische noch die arbeitsmarktliche Situation.

Die Umverteilung gilt als ein entscheidender Effekt der AHV. Können Sie dies kurz erläutern?

Die AHV ist grundsätzlich ein stark umverteilendes Instrument der Sozialen Sicherheit. Neun von zehn Personen erhalten mehr Rente als sie über Lohnabzüge und Steuern einbezahlt haben. Die obersten 10 Prozent der Einkommensverteilung tragen somit einen grossen Teil der finanziellen Last. Die Renten sind aber gegen unten wie gegen oben plafoniert. So belaufen sich die Minimalrente auf 1225, die Maximalrente auf 2450 Franken. Dadurch erhalten Personen mit mittleren Einkommen – also solche ab durchschnittlich 86'000 Franken brutto pro Jahr während 35 Beitragsjahren – die gleiche Maximalrente wie Personen mit höheren Einkommen.

Reicht das denn nicht aus?

Nein. Die AHV kann trotzdem bestehende materielle Ungleichheiten sozialpolitisch gesehen zu wenig stark ausgleichen, da sie nicht existenzsichernd ist. Dies gilt insbesondere für Personen mit weniger als der Maximalrente. Das Existenzminimum für eine Einzelperson inklusive Miete und Krankenkasse liegt bei 2500 Franken pro Monat, bei Personen im Rentenalter gemäss Ansätzen der Ergänzungsleistungen noch höher, so dass auch eine Maximalrente dieses nicht vollständig zu decken vermag.

Gibt es besonders armutsgefährdete Gruppen?

Ja. Da die AHV-Rente von erzielten Löhnen im Erwerbsalter abhängig ist, kumulieren sich im Lebensverlauf bestehende Ungleichheiten auch in der Alterssicherung.

«Neun von zehn Personen erhalten mehr Rente als sie über Lohnabzüge und Steuern einbezahlt haben»

Tobias Fritschi
Tobias Fritschi Leiter des Instituts Soziale Sicherheit

Wer ist besonders betroffen?

Für Personen mit Betreuungspflichten, häufig immer noch Frauen, gibt es seit 1997 über die Betreuungsgutschriften die Möglichkeit, ihre Leistungen für die Gesellschaft ebenfalls bei der AHV geltend zu machen. Trotzdem besteht bezogen auf alle drei Säulen der Alterssicherung ein relativ grosser Gender Pension Gap von 34,6 Prozent. Zum Vergleich: der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern im Erwerbsalter liegt bei rund 20 Prozent.

Gibt es noch weitere Betroffene?

Ja, auch Personen mit geringen oder unregelmässigen Einkommen sowie für Personen, die erst im Verlauf des Erwerbsalters in die Schweiz eingewandert sind, haben hohe Risiken der Altersarmut. Dasselbe gilt für Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen und fehlendem Bildungsabschluss.

Gibt es Erkenntnisse, wie sich frühere AHV-Reformen auf das Armutsrisiko der Rentner*innen auswirkten?

In den 1970er-Jahren wurden die Renten verdoppelt. Dadurch konnte die AHV erstmals eine existenzsichernde Wirkung entfalten und somit das Armutsrisiko von Rentner*innen stark vermindern. Ende der 90er-Jahre wurden das Splitting der Einkommen für die Berechnung der Ehegattenrenten sowie die Betreuungsgutschriften eingeführt, was das Armutsrisiko insbesondere von geschiedenen Frauen senkte.

«Jede fünfte Person im Alter von 65 bis 74 Jahren arbeitet noch»

Tobias Fritschi
Tobias Fritschi Leiter des Instituts Soziale Sicherheit

Eine der AHV-Initiativen 2024 bezweckt eine Erhöhung des Rentenalters. Wie sieht es heute in der Praxis aus?

Menschen im Alter ab 65 Jahren sind heute immer häufiger erwerbstätig. Jede fünfte Person im Alter von 65 bis 74 Jahren arbeitet noch. Dabei sind es insbesondere gut qualifizierte Personen mit Leitungsfunktionen, die bei der Arbeit eine hohe Sinnerfüllung erleben, die über das Rentenalter hinaus in reduziertem Pensum erwerbstätig sind.

Gibt es Unterschiede unter den verschiedenen Branchen?

Der Wunsch nach Weiterarbeit im Rentenalter ist unter den Branchen ungleich verteilt. Überdurchschnittlich stark ist er in den Branchen Information & Kommunikation, Bau sowie Gesundheits- und Sozialwesen.

Wo besteht aus wissenschaftlicher Sicht aktuell der grösste Handlungsbedarf, um die Ungleichheit im Alter anzugehen?

Es besteht ein grosser Bedarf zur Existenzsicherung im Alter ohne Rückgriff auf Ergänzungsleistungen. Diese stellt wie die Sozialhilfe ein Bedarfsleistung dar, die über Steuererträge finanziert wird.

Was gibt es für Lösungsmöglichkeiten?

Eine mögliche Lösung wäre die Kopplung der (Maximal)rente an eine fixe Anzahl Erwerbsjahre statt einem fixen Rentenalter. Dies würde neue Spielräume zur Lebensgestaltung unabhängig von Arbeit und Sozialer Sicherheit eröffnen. Durch eine Senkung der Bedingungen für das Erreichen einer Maximalrente könnte die AHV vermehrt existenzsichernd wirken und Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen im Alter stärker ausgleichen. Mit ähnlich hohen Kosten wie für die Einführung der 13. AHV-Rente könnte dadurch eine existenzsichernde AHV-Rente für breitere Bevölkerungsschichten ermöglicht werden.

BFH-Experte Tobias Fritschi äussert sich im Rahmen der AHV-Initiativen 2024 zur den Herausforderungen der AHV.
Tobias Fritschi leitet das Institut Soziale Sicherheit und Sozialpolitik an der Berner Fachhochschule.

Tobias Fritschi

Prof. Dr. Tobias Fritschi ist Leiter des Instituts Soziale Sicherheit und Sozialpolitik im Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule (BFH). Er befasst sich schwergewichtig mit der Finanzierung sozialer Dienstleistungen, Kosten-Nutzen-Analysen, Migration, Inklusion, beruflicher und sozialer Integration, Wohnangeboten sowie Bildungsökonomie.

Fachgebiet: Soziale Sicherheit
Rubrik: Story