Psychisch-somatische Komorbidität: Zu gesund für die Psychiatrie, aber zu krank für Physiotherapie?

18.11.2019 2. Schweizer Symposium zur Integration von psychologischen Aspekten in die Physiotherapie vom Freitag, 8. November 2019 in Bern

Physiotherapeutinnen und Physiotherapeutin wissen aus Erfahrung: Wer andauernde körperliche Beschwerden hat, leidet häufig auch unter psychischen Symptomen. Diesem Thema widmeten sich fünf Referate, ein Podiumsgespräch und drei Workshops am zweiten Schweizer Symposium zur Integration von psychologischen Aspekten in die Physiotherapie, das am 8. November 2019 an der Berner Fachhochschule in Bern stattfand.

Physiotherapie und Mental Health: Schweizer Perspektive

Emanuel Brunner fragte zum Auftakt des ersten Referates: «sollten sich alle Physiotherapeuten vermehrt mit dem Thema psychische Gesundheit befassen»? Er machte klar, dass Patientinnen und Patienten mit psychischen Komorbiditäten in der Physiotherapie häufig sind. Die Physiotherapie kann einen grossen Beitrag zur Versorgung leisten. Eine spezialisierte Weiterbildung sei für Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten sinnvoll, unter Umständen sogar notwendig. Er rief die Berufskolleginnen und -kollegen auf, sowohl bei zuweisenden Ärztinnen und Ärzten, wie auch bei Patientinnen und Patienten auf den Nutzen von spezialisierter Physiotherapie hinzuweisen.

Physical Activity and Mental Health: Interventions, Evidence, International Perspective

Der renommierte Forscher Davy Vancampfort von der Universität KU Leuven (Belgien) zeigte auf eine eindrückliche Weise auf, wieviel Evidenz für die Effekte von körperlichem Training auf die psychische Gesundheit vorhanden ist. Unter der Anleitung von spezialisierter Physiotherapie könne mit gezielter Bewegungstherapie positive Effekte erzielt werden. Die Effekte auf zahlreiche Krankheitsbilder wie z. B. Angst-, und affektive Störungen, psychotische Störungen und Suchtmittelmissbrauch seien ermutigend. Teils seien diese Effekte deutlich grösser, als die Versorgung mit Medikamenten oder Gesprächstherapie. Deshalb solle das Aktivitätsniveau als Vitalparameter bei allen Patientinnen und Patienten gemessen und nötigenfalls bewegungstherapeutische Massnahmen unter physiotherapeutischer Anleitung begonnen werden. Er schloss mit dem Zitat: «If a single drug had the same health benefits as physical activity, this would be sold as a miracle cure”.

Komorbiditäten aus Sicht der Psychosomatik: Massnahmen, erfolgreiche Beispiele und Stolpersteine in der Versorgung

Nik Egloff, leitender Arzt der psychosomatischen Medizin am Inselspital in Bern, führte aus, dass Patientinnen und Patienten sehr häufig somatische und psychiatrische Krankheiten, sowie funktionelle Störungen haben. In Hausarztpraxen haben 20 – 50 % der Patientinnen und Patienten keine organmorphologische Verletzung oder Erkrankung, aber eine Vielzahl von Symptomen. Diese seien auch behandlungswürdig. Sehr praxisnah und anhand von Patientenbeispielen beleuchtete er die Stolpersteine und mögliche Lösungswege in der Behandlung. Als Teil einer multimodalen Therapie spiele die Physiotherapie eine wesentliche Rolle. Abschliessend stellte er den Zuhörenden die Frage, ob sie sich diese Rolle auch zutrauen.

Die Betroffenen im Fokus: Erfahrungen, Herausforderungen und Lösungen aus Sicht der Patientenorganisation

Andi Daurú von der Patientenorganisation Pro Mente Sana, beschrieb die Herausforderungen und Lösungen aus Patientensicht. Häufig sei die Versorgung ungenügend, da weder Ärztinnen und Ärzte noch Patientinnen und Patienten über den Nutzen von physiotherapeutischen Behandlungsmassnahmen wissen. Dadurch werde der Bedarf (und das Bedürfnis) nicht oder zu spät erkannt. Ökonomische Aspekte, wie zum Beispiel ein Tarifsystem, welches die Kostenübernahme behindern, spielen ebenfalls eine Rolle. Er plädierte dafür, die Möglichkeiten (und Grenzen) von physiotherapeutischen Massnahmen besser zu kommunizieren.

Psychische Komorbiditäten, versicherungsmedizinische Aspekte

Roman Schleifer, Leiter der sozialversicherungsrechtlichen Begutachtung des Forensisch-Psychiatrischen Dienstes der Universität Bern, unterstrich die unterschiedlichen Denkweisen zwischen Medizin und Recht. Studien hätten gezeigt, dass die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Schmerzstörungen seitens der Gutachter-Personen als sehr schwierig eingeschätzt wird. Juristinnen und Juristen ihrerseits müssten häufig klare Entscheidungskriterien haben und bedienen sich bei ihren Beurteilungen von medizinischen Berichten häufig einer Suche über Google. Die Herausforderungen für die psychiatrische Versorgung umbeschrieb er wie folgt: häufig kein Behandlungsangebot vorhanden, lange Wartezeit (>4 Wochen), nicht niederschwellig genug, fehlen von Krankheitseinsicht seitens Patientinnen und Patienten, sowie erwartete Kostenzunahme beim Ausbau der Angebote.

Parallel-Workshops

Am Nachmittag rundeten die drei gut besuchten Workshops von Mathias Gubler (langjähriger Physiotherapeut Young Boys Fussballverein), Norbert Hindenberg (Institut Physiotherapie, Inselspital, Universitätsspital Bern) und Davy Vancamport (KU Leuven) das Symposium ab.

Mathias Gubler zog zahlreiche Parallelen zwischen den Spitzensportlerinnen und -sportlern sowie Patientinnen und Patienten im physiotherapeutischen Alltag. Er zeigte anhand einiger Beispiele aus seiner langjährigen Zusammenarbeit mit Fussball-Profis eindrücklich auf, wie wichtig auch dort der Einbezug von «Mental Health» ist. Vom Erstgespräch bis hin zu Interventionen nannte er konkrete Möglichkeiten für die Umsetzung. Auch in diesem Bereich sind die Aufklärung und Sensibilisierung für Athletinnen und Athleten, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten, Trainerinnen und Trainer, Betreuende sowie dem Umfeld elementar.  

Norbert Hindenberg regte den Austausch zwischen den anwesenden Experten und Expertinnen an. Er startete mit eigenen Beispielen der Kommunikation und erläuterte, wie diese im physiotherapeutischen Alltag wirken. Dabei ist die Reflektion der eigenen Rolle wichtig. Zudem wirke sich Angst auf das Bewegungsverhalten der Patientinnen und Patienten aus und nur durch Kommunikation auf «Augenhöhe» und intensivem Vertrauensaufbau liessen sich Fortschritte erzielen. Gemeinsam wurde herausgefiltert, was im Alltag der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten bereits vorhanden ist und was ausgebaut werden kann.

Der Schwerpunkt von Davy Vancampforts Workshop war, Möglichkeiten zu diskutieren, wie man Patientinnen und Patienten zur Verhaltensänderung motivieren kann. Er zeigte einen schrittweisen Aufbau einer Intervention, den er mit praktischen Tipps erläuterte.

Der Anlass bot mit Pausen und gemeinsamen Mittagessen reichlich Zeit, um sich mit den zahlreichen Kollegen und Kolleginnen auszutauschen. Bei vollem Saal und guter Stimmung wurden die Teilnehmenden der Tagung verabschiedet, welche voraussichtlich im Jahr 2021 erneut durchgeführt wird.

Organisationskomitee

  • Dr. Dörte Watzek
    Dozentin, Berner Fachhochschule Gesundheit
  • Dr. Emanuel Brunner
    Klinischer Fachspezialist Schmerz, Institut für Therapien und Rehabilitation, KSW Kantonsspital Winterthur
  • Norbert Hindenberg
    Leiter Physiotherapie, Kompetenzbereich für Psychosomatische Medizin,
    Inselspital, Universitätsspital Bern
  • Dr. Maurizio Trippolini
    Studienleiter Weiterbildung Physiotherapie, Berner Fachhochschule Gesundheit

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Rubrik: Forschung, Weiterbildung