Mit Advanced Practice Herausforderungen in der Psychiatrie lösen

19.10.2022 Seit Herbst 2021 bietet die Berner Fachhochschule im Master-Studiengang Pflege die Vertiefungsrichtung Psychiatric Mental Health Nurse Practitioner (PMHNP) an. Der im deutschsprachigen Raum einzigartige Studiengang zielt darauf ab, den aktuellen Versorgungslücken und Herausforderungen in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung entgegenzutreten.

In der Somatik haben sich in der Schweiz in den letzten Jahren die Rollen von klinisch ausgerichteten Nurse Practitioners (NP) im stationären wie ambulanten Kontext rasant entwickelt. Nun soll dies auch in der Psychiatrie vorangetrieben werden. Die Tätigkeit von bisherigen Pflegeexpert*innen in der Psychiatrie ist auf die Beratung von Fachpersonen und die Fachentwicklung und Qualitätssicherung in der Versorgung ausgerichtet. Als akademisch ausgebildeter Pflegefachperson geht es in der Rolle als Psychiatric Mental Health Nurse Practitioner (PMHNP) hingegen um verschiedene Aufgaben in der klinischen Praxis im direkten Kontakt mit
Patient*innen (Scheydt et al., 2020).

Positive Erfahrungen mit PMHNP im Ausland

Die Advanced-Practice-Nursing-Rolle (APN) PMHNP hat ihren Ursprung in den USA. In den 1960er-Jahren entstand in der Psychiatrie die überhaupt erste zertifizierte APN-Rolle (Cukr et al., 1998) mit klarem Fokus auf Beziehungsgestaltung und psychotherapeutisches Arbeiten. Aufgrund verschiedener Lücken und Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung wie Deinstitutionalisierung der Versorgung, Mangel an Gesundheitsfachpersonen und erhöhte Inanspruchnahme psychiatrischer Behandlung stieg in den 1990er-Jahren in den USA der Bedarf an PMHNP-Rollen, und entsprechende Studiengänge wurden etabliert (Wheeler & Haber, 2004). Unter anderem aufgrund eines sich zuspitzenden Mangels an Ärzt*innen übernahmen Pflegefachpersonen mit PMHNP-Rolle immer häufiger medizinische Aufgaben und Kompetenzen wie die Diagnose und medikamentöse Behandlung von psychischen Erkrankungen (Cornwell & Chiverton, 1997). Mittlerweile existiert von der zuständigen amerikanischen Zertifizierungsorganisation eine klare Beschreibung der PMHNP-Rolle. Der sogenannte «scope of practice» beinhaltet neben klinischer Einschätzung und Beurteilung, Diagnose und medikamentöser Therapie auch psychotherapeutisches Arbeiten (National Organisation of Nurse Practitioner Faculties [NONPF], 2013). Wichtig scheint dabei eine Angebotsorientierung am Alltag und an den Präferenzen der betroffenen Personen. In Australien zeigen sich ähnliche Entwicklungen bezüglich «scope of practice» von PMHNP (Elsom et al., 2005). Der Einsatz der PMHNP zeigt im Ausland bereits Wirkung: So tragen PMHNP bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zu Verbesserungen im körperlichen (z.B. verbesserte Diabeteswerte) und psychischen Bereich (z.B. Reduktion der allgemeinen Psychopathologie wie Depressionssymptome, Steigerung des Selbstvertrauens) sowie zur Verbesserung der allgemeinen Zufriedenheit mit der Behandlung und Unterstützung bei (Birch et al., 2021; Fung et al., 2014).

Fokus Advanced Practice in der Psychiatrie
In der Rolle als PMHNP übernehmen Pflegefachpersonen verschiedene Aufgaben in der klinischen Praxis im direkten Kontakt mit Patient*innen. Bild: Adobe Stock

Lücken in der Schweizer Versorgung

Bei der Entwicklung von APN-Rollen ist es wichtig, dass sie auf spezifische Versorgungslücken und die Bedürfnisse der Zielpopulation ausgerichtet sind (Bryant-Lukosius et al., 2004). In der Schweiz zeigen sich folgende Lücken und Herausforderungen: Die psychiatrische Versorgung fokussiert nach wie vor auf eine stationäre, medizinisch orientierte Akutversorgung. Intermediäre und ambulante Angebote fehlen weitgehend und konnten bisher nur ansatzweise durch psychosoziale Dienste wie beispielsweise die Spitex oder andere ambulante Pflegedienste kompensiert werden (Schweizerische Eidgenossenschaft, 2016). Eine solche Versorgungsausrichtung könnte dazu beitragen, stationäre Plätze und Zwangsbehandlungen zu reduzieren. Eine den Menschen und ihrem Umfeld angepasste Unterstützung zu Hause ermöglicht eine bessere Passung der Behandlung und führt zu einer höheren Zufriedenheit. Zudem haben insbesondere Menschen mit schweren psychischen Herausforderungen einen eingeschränkten Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten, da das bestehende Angebot zu wenig flexibel und nicht auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Population ausgerichtet ist (Wabnitz et al., 2017) und ein ausgeprägter Mangel an Gesundheitsfachpersonen herrscht (Lobsiger et al., 2016; Schweizerische Eidgenossenschaft, 2016).

Einzigartiger Studiengang im deutschsprachigen Raum

Seit Herbst 2021 bietet die Berner Fachhochschule (BFH) im Master-Studiengang (MSc) Pflege die Vertiefungsrichtung Psychiatric Mental Health Nurse Practitioner (PMHNP) an. Diesen hat die BFH in enger Kooperation mit der Yale University, School of Nursing, und der University of Colorado, Anschutz Medical Center, entwickelt. Durch den Einbezug wichtiger Vertreter*innen hiesiger psychiatrischer Institutionen sowie Nutzer*innen psychiatrischer Angebote stellte die BFH sicher, dass sich der MSc auf die schweizerischen Gegebenheiten und Bedürfnisse ausrichtet. So fokussieren die PMHNP-spezifischen Module an der BFH nun auf die klinische Einschätzung, Beurteilung und Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, auf das Kennenlernen aktueller und zukünftiger Versorgungsmodelle und das Training in therapeutischer Beziehungsgestaltung. Zur Berücksichtigung der subjektiven Sichtweise von Menschen mit psychischen Problemen bezieht die BFH im Unterricht systematisch ehemalige Nutzer*innen als Expert*innen durch Erfahrung im Team-Teaching mit ein. Die Kompetenzen der klinischen Praxis üben die Studierenden zudem in supervidierten Praxiseinsätzen von 400 Stunden über das ganze Studium hinweg. Mit diesen verschiedenen Komponenten und dem psychiatrischen Fokus ist das Studienprogramm im deutschsprachigen Raum einzigartig.

Entwicklung von PMHNP-Rollen in der Schweiz gemeinsam mit der Praxis

Mit dem PMHNP-Studienprogramm können nun entsprechende Rollen in enger Zusammenarbeit mit der Praxis entwickelt werden. Dank der Praxispartnerschaften mit psychiatrischen Institutionen, in denen die Studierenden die supervidierte Praxis absolvieren, ergibt sich ein direkter Austausch. Zusätzlich tragen spezifische Unterstützungsangebote und Austauschgefässe der BFH zu diesem Austausch bei. Erste Ergebnisse werden in Kürze erwartet.

Gesundheitsmagazin «frequenz»

Dieser Beitrag ist Teil der September-Ausgabe 2022 unseres Magazins «frequenz».

Fokus Gesundheit zum Thema Advanced Practice

Erweiterte Rollen in der Gesundheitsversorgung: Was braucht's und was bringt's?


Am Symposium Fokus Gesundheit sprechen wir mit Menschen aus der Praxis, Gesundheitspolitiker*innen wie auch Behördemitgliedern über die Advanced-Practice-Rollen: Was bringen sie und was braucht es für ihre Implementierung?

01.12.2022, 17.30–19.30 Uhr – National Bern (Theatersaal), Hirschengraben 24, 3011 Bern

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