«Ich kenne beide Seiten» – wie André Hebeisen dafür sorgt, Armutsbetroffenen besser helfen zu können

20.12.2022 André Hebeisen hat mit seinen 53 Jahren die schönen und die schwierigen Seiten des Lebens kennengelernt. Offen spricht er darüber, wie er in die Armut abrutschte und sich wieder aufgerappelt hat. Inzwischen verkauft er das Strassenmagazin «Surprise» und leitet «soziale Stadtrundgänge» in Bern. Für die BFH ist er als Erfahrungsexperte in verschiedenen Projekten tätig. Lesen Sie mehr über ihn in unserem Interview.

André Hebeisen
«Zeigt euch, macht selbst was, überwindet eure Scham! Verheimlicht eure Armut nicht!»

Möchten Sie uns von Ihrer Armutserfahrung erzählen? 

Ja, klar, ich kenne da keine Tabus. Ich kenne beide Seiten. Mir ging es gut. Ich war gutverdienender Abteilungsleiter. 2010 hatte ich aufgrund meiner Arbeitssituation ein Burn-out. Ich habe versucht, mich mit Alkohol davon abzulenken. Das ging natürlich nicht gut aus. Innerhalb eines halben Jahres verlor ich Job, Führerausweis, Freundin und Wohnung. Weitergetrunken habe ich trotzdem … Es gab ein langes Hin und Her: immer wieder Klinik, Therapie, dann raus ins betreute Wohnen und zurück in die Klinik. Da war ich wirklich ganz unten, fremdbestimmt durch die KESB, die über mich entschied (Anmerkung der Redaktion: KESB = Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde). 

Ich habe lange versucht, mein Trinken zu kontrollieren, aber erst seitdem ich ganz trocken bin, ging es wieder in die richtige Richtung, konnte ich den Kreislauf durchbrechen. Das war vor sieben Jahren. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, eigenständiger zu entscheiden. Doch seitdem ich eigenständiger bin, spüre ich die Armut stärker. In den Einrichtungen wurde ich ja voll versorgt. Plötzlich war ich beim Sozialdienst. Seitdem muss ich jeden Franken zweimal umdrehen.

Was ist für Sie das Schwierigste daran, arm zu sein?

Eigentlich ist die fehlende Akzeptanz der Mitmenschen, der Gesellschaft das Schlimmste. An das fehlende Geld gewöhnt man sich, aber ich fühle mich nicht mehr respektiert. Die Leute finden: der kostet ja nur, … der ist ja selbst schuld, … Aus Thun musste ich fortziehen, da war ich abgestempelt. Aber auch hier in Bern merke ich es noch. Wenn ich hier als Schweizer «Surprise» verkaufe, meinen die Leute, da sei doch sicher was nicht in Ordnung. Meist sind es nur Blicke, manchmal sagen junge Leute auch was. Im Normalfall verhalten sich die Leute aber einfach reserviert mir gegenüber. Da fühle ich mich als Person schon nicht gesehen. 

Wie hat sich Ihr soziales Umfeld dadurch verändert? 

Die alten Kolleg*innen kann man sich abschminken. Einige hatten anfangs Verständnis, aber wir leben in komplett verschiedenen Welten. Denen kann ich ja auch nichts mehr bieten. Ich kann nicht einfach mit ihnen Ski fahren gehen … Die Niveaus sind einfach zu unterschiedlich. Ich habe noch meine Mutter, den Bruder und ein paar andere Familienmitglieder. Meine Freundin ist eine wichtige Person, die zu mir hält. Freunde musste ich mir neue suchen, die mich so kennen, wie ich jetzt bin. Aber natürlich passe ich da auch auf bei meinem jetzigen Umfeld. Bei denen, die ich zum Beispiel aus der Klinik kenne, möchte ich nur zu denen Kontakt, die sauber sind. Alles andere tut mir nicht gut.

Was hat Ihnen am meisten geholfen, Ihre Situation zu verbessern?

Nichts mehr zu trinken! Das hat schon eine Weile gedauert, bis ich das begriffen habe. Damit kamen dann auch weitere Fortschritte. So habe ich meinen Führerausweis zurück. Dann habe ich mit Surprise und den Stadtrundgängen Jobs gefunden, die mir liegen. Die früheren Massnahmen auf dem zweiten Arbeitsmarkt (öffentlich finanzierte Beschäftigungen, Anmerkung der Radaktion) haben mich zu wenig gefordert. Jetzt kann ich mich selbst managen. Für diese Tätigkeiten lohnt es sich trocken zu sein, auch wenn ich kaum etwas verdiene.

Warum kann aus Ihrer Sicht Partizipation von Betroffenen die Armutsbekämpfung verbessern?

Es fehlt das Bindeglied zwischen den Armutsbetroffenen und den verantwortlichen Stellen. Diese Lücke zwischen ihnen ist einfach zu gross. Es gibt Menschen, die man fast an die Hand nehmen muss, damit sie auf den Sozialdienst gehen. Ich kann die schon verstehen und deshalb kann ich sie besser motivieren, sich ihrer Armut zu stellen. Man will uns gern vergessen, aber wir sind halt da. Ich denke, es könnte sogar Geld gespart werden, weil die Massnahmen durch partizipative Ansäte viel zielgerichteter eingesetzt werden. Mit der Beteiligung von Betroffenen könnten wir viel mehr bewirken.

Was hat Sie motiviert, den Pilot-Kurs «Erfahrungen und Fachwissen gemeinsam nutzen» zu besuchen?

Ich fühle mich durch den Pilot-Kurs sehr wertgeschätzt. Meine Erfahrung ist nützlich. Ich habe ein grosses Fachwissen, von dem viele nichts hören wollen, obwohl das ja jedem passieren kann. Das will ich offenlegen. Das merke ich auch bei den Rundgängen. Da sagen mir die Teilnehmer*innen: ‹Oh, jetzt haben wir Dinge gesehen, die uns nie aufgefallen sind.› Das motiviert mich für solche Projekte.

Haben Sie aufgrund Ihrer Armutserfahrung und Teilnahme an der Weiterbildung ein gesellschaftliches Anliegen, dass Sie der Politik oder den Fachpersonen der Armutsbekämpfung mitgeben möchten?

Armutsbetroffene dürfen nicht so an den Rand gedrängt werden. Sie sollen mit uns auf Augenhöhe reden und uns ins Boot holen. Es gibt uns, also sollten wir auch ein Thema für die Politik sein. Meiner Meinung nach könnte man mit wenig Geld viel erreichen.

Was möchten Sie allen Armutsbetroffenen mitgeben?

Haltet ein wenig zusammen und versteckt euch nicht. Zeigt euch, macht selbst was, überwindet eure Scham! Verheimlicht eure Armut nicht! Viele kämpfen am Existenzminimum, aber das erzählen sie niemandem. Deshalb sieht die Schweizer Bevölkerung die Armut nicht. Seit Corona gibt es noch viel mehr Leute, die kämpfen müssen, Junge, Alleinerziehende und Familien, alte Menschen … 

In diesen BFH-Projekten arbeitet André Hebeisen mit

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