Von Generation zu Generation: Familiennarrative im Kontext von Fürsorge und Zwang

Bis 1981 erlebten zehntausende Menschen in der Schweiz mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen biografisch einschneidende Eingriffe, die auch das Leben der nächsten Generationen prägten.

Steckbrief

Ausgangslage

Die gesellschaftliche Aufarbeitung der bis in die 1980er Jahre praktizierten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen führte zu einer grossen Auslegeordnung an Erkenntnissen zum Thema. Dank wissenschaftlichen Analysen, autobiografischen Zeugnissen und medialen Dokumentationen verstehen wir immer besser, wie diese Massnahmen stattgefunden haben, wie sie legitimiert wurden und welche biografischen Folgen sie für betroffene Menschen hatten und haben. Es zeigt sich deutlich, dass diese Personen – im Falle einer Fremdplatzierung im Kindes- und Jugendalter – unter erschwerten Bedingungen erwachsen wurden. Nach Jahren der Fremdbestimmung war der Übergang in die Selbständigkeit abrupt. Vielen Betroffenen fehlte es an Geld, einer Ausbildung, sozialen Beziehungen und Netzwerken. Sie waren geprägt von Abwertungs- und Gewalterfahrungen sowie rigiden Moralvorstellungen. Oft waren die Beziehungen zur Herkunftsfamilie abgebrochen oder schwierig. Gleichzeitig bestand aber das Bedürfnis nach einem eigenen Zuhause. Mit diesem biografischen Rucksack gründeten die betroffenen Menschen eigene Familien. 

Ziele

In unserem Forschungsprojekt gingen wir der Frage nach, wie sich die von Fremdplatzierungen betroffenen Menschen auf das Leben ihrer Nachkommen ausgewirkt haben.

Aus der Perspektive der Nachkommen standen folgende Fragen im Zentrum: 

  • Welche Zusammenhänge sehen die Töchter und Söhne zwischen den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die ihre Eltern erlebten, und ihrem eigenen Leben? 
  • Wie sind sie in ihrem Leben mit diesen Zusammenhängen umgegangen?
  • Welche Gedanken machen sie sich über die mögliche Weitergabe von Folgen an die nächste (dritte) Generation?

Im Sinne eines Transfers in die Gegenwart gingen wir zudem der Frage nach, ob und inwiefern unsere Ergebnisse eine Relevanz für die heutige stationäre Kinder- und Jugendhilfe haben.
 

Vorgehen

Wir führten biografisch-narrative Interviews mit 27 Schweizer*innen, deren Vater beziehungsweise Mutter bis 1981 im Kindesalter von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren. In einer ersten Phase wurden sechs Fälle mittels Ansätzen aus der Biografieforschung analysiert. Anhand der erarbeiteten Fallrekonstruktionen konnten in den Biografien der Befragten wiederkehrende Phänomene und Mechanismen der Weitergabe identifiziert werden. Auf dieser Grundlage wurden spezifische Fragestellungen entwickelt, die im Rahmen von Analysetandems und unter Einbezug des gesamten Datenmaterials weiter bearbeitet wurden. Dabei handelte es sich um die folgenden Themen:

Erfahrungen in der Familie 

  • Schweigen
  • Belastende Zugehörigkeitserfahrungen
  • Erlebte Nicht-Intervention bei Gewalt

Heraustreten aus der Familie

  • Erneute Fremdplatzierung
  • Früher Auszug aus belasteten Verhältnissen
  • Sorgetätigkeit als Wiederherstellung von Familie
  • Eigene Familiengründung

Ergebnisse

Menschen, die sich für ein Interview meldeten, taten dies aus unterschiedlichen Beweggründen. Sie wiesen zudem eine sehr grosse Altersspanne auf. Was sie verband war, dass sie uns von belasteten Kindheitserfahrungen berichteten, die sie mit den Vergangenheiten ihrer Eltern in Verbindung brachten. So erzählten sie von konflikthaften bis gewaltvollen Elternbeziehungen, von Tabuisierungen der elterlichen Vergangenheit, von Bindungsproblemen zu ihren Eltern und Entgrenzungen innerhalb der Familie.

Auswirkungen für die Nachkommen

In unseren Interviews zeigten sich die intergenerationalen Auswirkungen der fürsorgerisch begründeten Zwangsmassnahmen über die ganze Lebensspanne der Nachkommen hinweg. Das heisst, dass sich die Töchter und Söhne sowohl in ihrer Kindheit, aber auch als Erwachsene mit den Auswirkungen der elterlichen Biografie auf ihr Leben befassen. In unseren Interviews haben wir gesehen, dass eine starke Identifikation mit der elterlichen Geschichte stattfinden kann, indem die Kinder das Leiden ihrer Eltern übernehmen und davon emotional vereinnahmt werden. Beispielsweise indem sie mit schlimmen Ahnungen umgehen mussten, was ihren Eltern passiert sei. Auch erlebten sie selbst Gefühle wie Schuld, Angst oder Mitleid. Diese Gefühle können in Eltern-Kind-Beziehungen eingebettet sein, die als kompliziert empfundenen wurden und sich durch ausgeprägte Bindungsambivalenzen kennzeichnen. Teilweise hadern die Nachkommen mit diesen Gefühlen bis zum Tod ihrer Eltern oder darüber hinaus. Trotz der belasteten Beziehungen erzählen die Nachkommen wie bedeutsam es für sie ist, sich und ihr Leben in die Familiengeschichte einordnen zu können.

Umgangsweisen der Nachkommen 

Die Nachkommen wählten unterschiedliche Umgangsweisen mit ihren spezifischen Erfahrungen: Sie verliessen teilweise bereits als Minderjährige ihre Herkunftsfamilien oder verzichteten auf bestimmte Bildungswege, um früher ausziehen zu können. Sie setzten sich für andere biografisch belastete Menschen ein, indem sie beruflich oder privat in der Sorgearbeit tätig wurden, und sie befassen sich mit der Frage, wie die Entstehung einer betroffenen «Drittgeneration» verhindert werden kann.

Relevanz der Ergebnisse für die gegenwärtige stationäre Kinder- und Jugendhilfe

Durch die gesellschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen können die Nachkommen besser nachvollziehen, was ihre Eltern erlebt haben, und wie es deshalb zu ihren eigenen, belasteten Kindheiten kommen konnte. Gleichzeitig zeigen unsere Ergebnisse, dass wir es bei den Nachkommen mit einer zusätzlichen Gruppe Betroffener zu tun haben, über die bislang nicht gesprochen wurde. Dies muss ins Bewusstsein des öffentlichen Aufarbeitungsdiskurses rücken.  

Unsere Ergebnisse reihen sich in die bestehenden internationalen Erkenntnisse zur Weitergabe biografischer Traumata von einer Generation zur nächsten ein. Im Bereich der Fremdunterbringung (d.h. Kinder und Jugendliche, die nicht zuhause aufwachsen können) hat sich in der Schweiz in den letzten 40 Jahren viel verändert. Insbesondere die vergangenen zehn Jahre haben zu verstärkten Qualitätsdiskussionen im Kindesschutz geführt. Nichtsdestotrotz bleiben manche Phänomene bestehen: so beispielsweise die biografische Zäsur der Fremdunterbringung(sgründe), die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit, die erlebten Stigmata fremduntergebrachter Kinder und Jugendlicher oder der anspruchsvolle Übergang ins Erwachsenenalter. Menschen mit Fremdplatzierungserfahrung gründen also auch heute noch unter erschwerten Bedingungen eine Familie. 

Die vorliegende Studie weist auf die Notwendigkeit hin, dass wir frühzeitig aufmerksam werden für die möglichen negativen Folgen einer Fremdunterbringung für die jeweils nächste Generation.  Gleichzeitig bildet sie den Anfangspunkt unserer Folgestudie: Im Rahmen einer Langzeitstudie unterstützen wir fremduntergebrachte Kinder und Jugendliche darin, ihre Zeit in einer Institution oder einer Pflegefamilie zu dokumentieren und so den «roten Faden» auch trotz erschwerter Umstände des Aufwachsens zu behalten .

Bild einer Schwangeren gemalt von einer Intervieten im NFP 76
©Manuela Betschart (2021), Ohne Titel

Dieses Projekt leistet einen Beitrag zu den folgenden SDGs