Ernährungsberatung bei Patient*innen mit psychischen Störungen

20.01.2022 Welche Kompetenzen brauchen Ernährungsberater*innen im Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen, damit eine Beratung erfolgreich sein kann? Das Bachelor-Studium Ernährung und Diätetik sowie das vertiefende CAS «Angewandte Ernährungspsychologie» wollen dazu nicht nur Fachwissen vermitteln, sondern auch eine klientenzentrierte Grundhaltung und die Fähigkeit zur interdisziplinären Vernetzung.

Die Ursachen von psychischen Störungen finden wir in vielen Fällen in der Kindheit. Ob und wie sich ein Mensch zu einer gesunden, selbstbewussten Persönlichkeit entwickeln kann, beschäftigt die Entwicklungspsycholog*innen – und dieser Prozess ist an vielen Stellen störanfällig. Wir wissen, dass Menschen mit psychischen Störungen häufiger unsicher gebunden sind, einen schwächeren Selbstwert haben und ihr Wunsch nach Kontrolle stärker ausgeprägt ist (Simchen, 2015). Da Essstörungen teilweise kombiniert mit anderen psychischen Störungen auftreten, nehmen in der Beratung von essgestörten Patient*innen Themen wie Angst und Kontrolle, Selbstwert und Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen und Interaktionen mehr Raum ein als sonst in der Ernährungsberatung. Komorbide Störungen wie Persönlichkeitsstörungen treten im Zusammenhang mit Essstörungen bei Bulimie und Binge Eating auf. Anorexie ist häufiger mit Angst- und Zwangsstörungen assoziiert (Sansone, 2007; Schweiger, 2008).

Beratung braucht Offenheit, Zeit und viel Verständnis

Die angehenden Ernährungsberater*innen werden im Bachelor-Studium Ernährung und Diätetik der Berner Fachhochschule umfassend auf einen späteren Beratungsalltag mit Menschen mit einer Vielzahl von klinischen Krankheitsbildern vorbereitet. Sie üben und erweitern in zahlreichen Settings ihre Beratungskompetenzen. Doch welche speziellen Skills und Fertigkeiten braucht es zur Beratung von Menschen mit psychischen Störungen wie z.B. Essstörungen?
Franziska Gasser von der Klinik Wysshölzli, eine erfahrene Ernährungsberaterin bei Essstörungen, findet folgende Voraussetzungen für die Beratung wichtig:

  • eine Offenheit dem Krankheitsbild gegenüber
  • viel Verständnis und Ehrlichkeit im Umgang mit den Menschen
  • sich Zeit nehmen für den Beziehungsaufbau, um Vertrauen zu gewinnen

Die Beziehungsgestaltung in der Beratung von Menschen mit psychischen Störungen nimmt einen grossen Stellenwert ein. Die kognitive Wissensvermittlung hat ihren Platz, aber auch Grenzen.

Klientenzentrierte Grundhaltung ist Voraussetzung

Die Beratungsbeziehung als Wirkfaktor in der Therapie (Grawe, 1992; Herpertz et al., 2020) wird als wichtigster Faktor dafür beschrieben, dass eine Beratung, ein Coaching oder eine Therapie erfolgreich sein kann. Daher ist es für Ernährungsberater*innen elementar zu verstehen, welchen Einfluss verschiedene psychische Störungen auf die Beziehungsgestaltung haben können. So können Persönlichkeitsstörungen wie die Borderline-Störung, die narzisstische Störung oder auch eine ängstlich-vermeidende Struktur der Ratsuchenden die Berater*innen-Klient*innen-Beziehung und somit den Beratungsprozess massgeblich beeinflussen und bestimmen.

Die Beziehung zwischen Berater*in und Klient*in ist Voraussetzung, damit Vertrauen aufgebaut werden kann und das Einlassen auf den Veränderungsprozess möglich wird. Die ersten Schritte zu einer Veränderung im Essverhalten bei Essstörungen sind meist sehr angstbesetzt und müssen vorsichtig vorbereitet werden. Deshalb geben eine klientenzentrierte Grundhaltung nach Rogers (Rogers & Schmid, 2004), sowie die Beachtung der vier Grundbedürfnisse nach Grawe (Stucki & Grawe, 2007) eine wichtige Orientierung in der Beratung von Menschen mit psychischen Störungen. Die Grundbedürfnisse von Menschen, die in eine Beratung oder Therapie kommen, sind nämlich grundsätzlich gleich:
Der Wunsch nach 1. Kontrolle/Orientierung, 2. nach Bindung und 3. nach Wohlbefinden sowie 4. das Streben nach einer Verbesserung des Selbstwerts (Stucki & Grawe, 2007).
Der Wunsch nach Kontrolle ist bei Essstörungen besonders ausgeprägt und drückt insbesondere das Fehlen von Vertrauen aus. Vertrauen in den eigenen Körper sowie Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit müssen (wieder-)erlangt werden. Hilfreich ist es, in der Beratung sehr kleine Schritte zu vereinbaren, in denen die Klient*innen nach und nach Erfolgserlebnisse erfahren können. Sie müssen mit jedem Schritt absolut einverstanden sein, um das Gefühl von Kontrolle zu behalten. Gleichzeitig kann das Schaffen von Erfolgserlebnissen das Wohlbefinden und den Selbstwert steigern, um Mut für die nötigen nächsten Schritte zu fassen.

Grundlegende Kenntnisse über die verschiedenen psychischen Störungen werden im Bachelor-Studiengang Ernährung und Diätetik im letzten Semester vermittelt, müssen aber sicherlich später vertieft und durch die Praxiserfahrung ergänzt werden. Seit 2021 bietet die Berner Fachhochschule das CAS «Angewandte Ernährungspsychologie» an, um den Bedarf nach Vertiefung in der Praxis tätigen und bereits erfahrenen Ernährungsberater*innen zu decken. 

Ernaehrungsberatung bei Patientinnen mit psychischen Störungen
Grundbedürfnisse nach Grawe (2007)

Teamfähigkeit und interdisziplinäre Vernetzung

Die Therapie von Essstörungen ist meist ein langsamer und langwieriger Prozess, in dem ein multidisziplinäres Behandlungsteam, bestehend aus Arzt*Ärztin/Psychiater*in, Psychotherapeut*in, Ernährungsberater*in, Sozialarbeiter*in und weiteren Therapeut*innen (z.B. Kunst, Körper und Musik) involviert sind (Herpertz et al., 2020). Die Fähigkeit, interdisziplinär zu arbeiten und zu kommunizieren, die Bereitschaft, die eigenen Kompetenzen hin zu anderen Professionen zu erweitern, aber auch die eigenen Grenzen in der Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen zu (er-)kennen, ist eine wichtige Voraussetzung, welche die Ernährungsberater*innen mitbringen sollten. Ausserdem sollte die Bereitschaft zur Selbsterfahrung und Selbstreflexion vorhanden sein. Diese professionsübergreifende Arbeit braucht ein hohes Mass an Teamfähigkeit und Kommunikationsbereitschaft, ist aber auch vielseitig und spannend. Gerade im ambulanten Setting sollten sich selbstständig tätige Ernährungsberater*innen mit Therapeut*innen unterschiedlicher Professionen vernetzen und nicht den Anspruch haben, diese Menschen alleine durch eine gute Ernährungsberatung aus ihrer Sackgasse führen zu können. Ernährungsberatung kann bei psychischen Störungen einen wichtigen und wesentlichen Beitrag leisten, aber nur in einem Behandlungsteam wirklich erfolgreich sein.

Ernaehrungsberatung bei Patientinnen mit psychischen Störungen

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