Tarmed: Warum dauert es so lange mit der Revision des Tarifsystems?

24.11.2022 Ambulante Gesundheitsleistungen – wie beispielsweise «Home Treatment» bei psychiatrischen Behandlungen – werden vom Tarifsystem Tarmed oft nur mangelhaft finanziert. Warum das so ist, erklärt der Gesundheitsökonom Prof. Dr. Mark Pletscher im Interview.

Ambulante pychiatrische Pflege
Die ambulante psychiatrische Betreuung wird in der Schweiz aktuell mit dem Tarifsystem Tarmed abgerechnet (Bild: Adobe Stock).

Im Zusammenhang mit zunehmenden Zwangsmassnahmen in stationären psychiatrischen Einrichtungen bemängelt Prof. Dr. Dirk Richter den fehlenden Ausbau der ambulanten psychiatrischen Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Als einen Grund dafür identifiziert er die ungenügende Finanzierung solcher Dienste durch das Tarifsystem Tarmed. Doch was ist Tarmed und warum widerspiegeln bestimmte Tarife nicht die realen Kosten?

Herr Pletscher, was ist Tarmed und wer bestimmt die Tarife?

Mark Pletscher: Tarmed ist das Tarifsystem, mit dem Ärzt*innen ambulante Leistungen wie Arztbesuche abrechnen. Für jede Leistung während einer Konsultation enthält die Tarmed-Datenbank eine Tarifposition mit Taxpunkten. Eine Arztrechnung wird durch die während einer Konsultation verrechneten Taxpunkte und kantonal unterschiedliche Taxpunktwerte berechnet.

Neue Versionen des Tarifsystems müssen durch Vertretungen der Ärzteschaft, Spitäler und Kostenträger – also Kranken-, Unfall-, Invaliden- oder Militärversicherung – ausgehandelt und durch den Bundesrat bewilligt werden.

Ambulante psychiatrische Pflege wie z.B. «Home Treatment» ist aufgrund der tiefen Tarmed Tarife meist nicht kostendeckend. Warum ist das so?

Mark Pletscher: Die aktuelle Version des Tarmed Tarifsystems wurde 2004 eingeführt. Seither haben sich die Art und die Kosten der ambulanten Leistungen in verschiedenen Behandlungsbereichen sehr unterschiedlich entwickelt. Mittlerweile sind die Taxpunkte im Vergleich zu den realen Kosten für einzelne Leistungen zu tief und für andere zu hoch.

Vertretungen von Leistungserbringern und Kostenträgern arbeiten deshalb seit 2013 gemeinsam am neuen Tarifsystem Tardoc. Neue Tarifpositionen und Taxpunktwerte sollen die Kosten ambulanter ärztlicher Leistungen besser abbilden.

Seit bald 10 Jahren wird an einer Revision von Tarmed gearbeitet. Warum dauert das so lange?

Mark Pletscher: Der Bundesrat hat 2015 vier Bedingungen für die Bewilligung eines neuen ambulanten Tarifsystems aufgestellt. Eine davon ist die sogenannte Kostenneutralität. Das bedeutet, dass das neue Tarifsystem in der Schweiz nicht zu einer Erhöhung der ambulanten Kosten führen darf. Der Bundesrat hat die Bewilligung des überarbeiteten Vorschlags zu Tardoc im Juni 2020 und im Juni 2022 zweimal abgelehnt mit der Begründung, die Kostenneutralität sei nicht ausreichend gewährleistet.

Dazu kam, dass sich die beiden Krankenkassenverbände Curafutura und santésuisse uneinig über die Struktur des Tarifsystems waren. Curafutura hat seit 2015 an der Überarbeitung der Einzelleistungstarife mitgearbeitet, während santésuisse ein Tarifsystem mit ambulanten Pauschalen bevorzugte. Nun kommt aber Bewegung in die Sache. Die beiden Verbände arbeiten in der neu gegründeten Organisation ambulante Arzttarife AG (OAAT) zusammen.

Die Forderung der Kostenneutralität will einen weiteren Anstieg der Gesundheitskosten verhindern. Könnte das nicht auch geschehen, indem die ambulante zugunsten der stationären Gesundheitsversorgung ausgebaut wird?

Mark Pletscher: Viele medizinische Leistungen können tatsächlich ambulant in gleich guter Qualität und zu geringeren Kosten durchgeführt werden als stationär. Eine grosszügigere Vergütung ambulanter Leistungen könnte für Spitäler ein Anreiz sein, Behandlungen vermehrt ambulant durchzuführen. Allerdings könnte es dadurch auch zu unnötigen Auslagerungen von Leistungen kommen, die eigentlich während eines stationären Aufenthalts durchgeführt werden könnten.

Durch Anpassungen der ambulanten Tarife allein sind die erwünschten Verlagerungen von Leistungen in den ambulanten Bereich schwer zu steuern. Hier bräuchte es andere Instrumente, um die Versorgung besser zu koordinieren und die Anreize so zu setzen, dass Leistungserbringer die ganze Behandlung ihrer Patient*innen berücksichtigen und nicht nur die Leistungen in ihrem Bereich.

Sind nicht-kostendeckenden Tarife ein spezifisches Problem der psychiatrischen Pflege oder betreffen sie alle ambulanten Gesundheitsdienstleistungen?

Mark Pletscher: Von der unzureichenden Kostendeckung durch das Tarmed Tarifsystem sind verschiedene Behandlungsbereiche betroffen. Häufig genannte Beispiele sind die Kindermedizin, die Notfallversorgung, die Altersmedizin oder eben die Psychiatrie.

Zur Person

Mark Pletscher
Prof. Dr. Mark Pletscher hat sich der Gesundheitsökonomie verschrieben – nach Stationen am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie und bei Roche leitet er heute das Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik an der BFH.

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