Psychische Gesundheit und Bewegung: «Die Physiotherapie steht unter Zugzwang»

26.10.2023 Dr. Emanuel Brunner ist Physiotherapeut und klinischer Spezialist für Mental Health. Sein Ziel ist es, das Potenzial von Bewegung und Körpererfahrung zu nutzen, um das individuelle Leiden bei psychischen Problemen zu vermindern. Er fordert, dass Physiotherapeut*innen mehr Verantwortung in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen übernehmen.

Emanuel Brunner

Emanuel Brunner, Sie stehen für die Spezialisierung von Physiotherapeut*innen im Bereich Mental Health ein. Warum ist es wichtig, die psychische Gesundheit in diesem Beruf zu berücksichtigen?

Unter anderem, weil sie uns tagtäglich begegnet. Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Herz- oder Lungenkrankheiten, Diabetes oder Osteoarthritis leiden häufig an psychischen Erkrankungen. Gleichzeitig sind Menschen mit Schizophrenie oder Angststörungen oft auch von körperlichen Krankheiten betroffen. Die Alterung der Gesellschaft und die damit verbundene höhere psychische Komorbidität sowie die Zunahme psychischer Erkrankungen vor allem bei jungen Menschen sind zwei grosse Herausforderungen der Gesellschaft.

… und somit auch der Physiotherapie?

Ja, ganz klar. Die Physiotherapie sollte sich in ihrer Professionsentwicklung immer den gesellschaftlichen Herausforderungen stellen und versuchen, zur Verbesserung beizutragen. Interessanterweise waren es in der Vergangenheit zumeist psychosomatische Probleme, an denen die Physiotherapie gewachsen ist. Nach den Weltkriegen übernahm die Physiotherapie eine wichtige Rolle in der Rehabilitation und behandelte die Soldaten, die an posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Deshalb ist für mich auch angesichts der aktuellen Entwicklungen klar: Die Physiotherapie müsste auf allen Ebenen der psychiatrischen Versorgung vertreten sein, von der Prävention bis zur Behandlung des ganzen Spektrums. 

Sie sprechen im Konjunktiv… welche Rolle hat die Physiotherapie aktuell bei der Behandlung von psychisch Erkrankten?

Um es offen zu sagen: Im Moment noch eine ungenügende Rolle. Wir brauchen mehr Physiotherapeut*innen, die im Umgang mit psychisch Erkrankten kompetent sind. Das darf man von uns erwarten. Und das heisst nicht, dass sich alle in jedem Setting für jede Behandlung kompetent fühlen müssen, aber alle müssen den Versorgungsbedarf erkennen und entsprechend handeln können. Hier steht die Physiotherapie unter Zugzwang. Wir haben zwar eine Rolle in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wir sind involviert, aber wir sind auf allen Ebenen noch lange nicht da, wo wir sein sollten. 

Wir brauchen mehr Physiotherapeut*innen, die im Umgang mit psychisch Erkrankten kompetent sind. Das darf man von uns erwarten.



Woran liegt das?

Zu einem grossen Teil fehlt es am Selbstverständnis des eigenen Berufsbildes: Physiotherapeut*innen registrieren noch zu wenig, dass sie eine wichtige Rolle spielen bei der Erkennung und Behandlung von psychischen Erkrankungen. Gerade in der Schweiz fehlt dieses Mindset. Zu lange hat sich die Physiotherapie hierzulande auf manualtherapeutische Behandlungen konzentriert. Die psychische Gesundheit war deshalb lange Zeit schlicht nicht Teil der Aus- und Weiterbildung von Physiotherapeut*innen. Das hat sich in den vergangenen Jahren glücklicherweise geändert. An der Ostschweizer Fachhochschule ist der psychiatrische Aspekt bereits in der Grundausbildung Thema, die Berner Fachhochschule bietet entsprechende Weiterbildungen an.

Wieso erst jetzt?

Man kann es nicht schönreden: Die Schweiz hat es leider schlicht verschlafen, in diesem wichtigen Bereich aktiv zu werden. Wir wissen, dass es im Schnitt sieben Jahre braucht, bis ein Forschungsergebnis in der Praxis angewendet wird. Die Physiotherapie wurde zudem erst spät akademisiert, die Forschung hatte also lange keinen Einfluss auf das Berufsbild. Jetzt haben wir die klinische Forschung. Wir wissen, dass bewegungsorientierte Therapie bei psychischen Erkrankungen hilft und können das in die Aus- und Weiterbildung einfliessen lassen. Die Akademisierung der Profession war dringend nötig, denn der Zusammenhang zwischen Körper und Psyche ist hochkomplex.

 

Die Akademisierung der Profession war dringend nötig, denn der Zusammenhang zwischen Körper und Psyche ist hochkomplex.

Was fordern Sie konkret von der Physiotherapie in Bezug auf die psychische Gesundheit?

Das Bewusstsein für Körper und Bewegung im Zusammenhang mit der Psyche wächst auch in anderen Berufsgruppen. So gibt es körperorientierte Psychotherapien, Sporttherapien mit Fokus auf psychische Erkrankungen und weitere Komplementär- und Alternativtherapien, die das Potenzial von Bewegung bei psychischen Erkrankungen erkannt haben: Die Liste ist lang und es braucht alle Gesundheitsberufe, um den Stellenwert von Bewegung und Training in der psychischen Versorgung zu stärken. Aus meiner Sicht müssen es aber die Physiotherapeut*innen sein, die den Lead bei der bewegungsorientierten Behandlung von psychischen Erkrankungen übernehmen. Wir sind dafür ausgebildet, Menschen mit Gesundheitsproblemen zu behandeln. Das unterscheidet uns von einer Sporttherapeutin oder einem Fitness-Instruktor, die in den allermeisten Fällen mit gesunden Menschen arbeiten. Es gibt zum Beispiel immer mehr Psychiatrien, die daran interessiert wären, die Physiotherapie in ihrer Klinik auszubauen. Wir brauchen mehr ausreichend qualifizierte Physiotherapeut*innen, die bereit sind, ein solches Angebot vor Ort zugänglich zu machen.

Emanuel Brunner

Die psychiatrische Gesundheitsversorgung steht unter Druck. Wie kann die Physiotherapie hier entlasten?

Entlastung ist ein unpassender Begriff, denn Physiotherapie ersetzt weder Psychotherapie noch Pharmakotherapie. Die Physiotherapie kann einen Beitrag zur Stärkung des Systems leisten und helfen, den Patient*innen besser gerecht zu werden. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass psychisch kranke Menschen in jedem Fall zusätzlich körperorientierte Therapien erhalten. Im Umkehrschluss können wir durch eine physiotherapeutische Anamnese, die auch die psychische Gesundheit beinhaltet, rasch erkennen, wenn eine Person weitere Therapien benötigt und entsprechend handeln, um patientengerechte Versorgungsnetzwerke für sie aufzubauen. 

Wo sehen Sie Chancen für die Zukunft?

Wenn man das Bewegungsverhalten zielgerichtet analysiert, lassen sich Rückschlüsse auf die psychische Gesundheit ziehen oder sogar ein Risiko für die Entwicklung einer Demenz erkennen. Dieser Zusammenhang zwischen Motorik und Kognition ist sehr vielversprechend und die Physiotherapie wäre in der richtigen Position, dies festzustellen und Massnahmen für die weitere Behandlung einzuleiten – in der Psychiatrie, aber auch in der Geriatrie. 

Wir sollten uns dafür einsetzen, dass psychisch kranke Menschen in jedem Fall zusätzlich körperorientierte Therapien erhalten.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kognitive Einschränkungen bei einer beginnenden Demenz zeigen sich unter anderem durch ein verändertes Gangmuster. Gangtempo und Gangrhythmus sind verändert, und dies fällt besonders dann auf, wenn eine Dual-Task-Fähigkeit gefordert ist, also wenn jemand gehen und gleichzeitig eine kognitive Aufgabe ausführen muss. Wenn wir mit den Patient*innen sowieso ein Lauftraining ausführen, können wir solche Untersuchungen gleich mit durchführen. Im besten Fall erkennen wir eine beginnende Demenz frühzeitig und können Therapien anordnen, die ein längeres selbständiges Leben ermöglichen. 

Was ist Ihr Appell an Ihre Arbeitskolleg*innen?

Ich hoffe, dass wir unsere Kolleg*innen und Studierenden motivieren können, um die Menschen ganzheitlich wahrzunehmen. Wir müssen uns nicht alle auf psychische Erkrankungen spezialisieren. Aber wir sollten diese genauso berücksichtigen wie die Medikation oder andere Erkrankungen wie Diabetes oder kardiologische Risikofaktoren.

Interview: Nicole Schaffner

Zur Person: Dr. Emanuel Brunner

Emanuel Brunner
Emanuel Brunner ist Physiotherapeut und Studiengangsleiter an der OST – Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen. Seit zehn Jahren arbeitet er als Physiotherapeut am Kantonsspital Winterthur. In seiner klinischen Tätigkeit im Akutspital behandelt er ambulante und stationäre Patient*innen mit psychischen Problemen oder Störungen.

Mental Health im Fokus

Die Pflege unserer psychischen Gesundheit ist ein immer wichtigeres Thema in unserer Gesellschaft. Deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen zu Mental Health und Wohlbefinden. Das Symposium «Fokus Gesundheit» mit ausgewiesenen Fachexpert*innen schliesst den Themenschwerpunkt ab.

Mehr erfahren

Fachgebiet: Caring Society + Alter, Physiotherapie + Rehabilitation