Die eigene Erfahrung reflektiert einbringen

22.09.2023 Christian Feldmann und Andrea Zwicknagl sind beide Expert*innen aus Erfahrung und arbeiten als Peer-Mitarbeitende ambulant bei der aufsuchenden Wohnbegleitung der UPD in Bern und bei der mobilen Krisenbegleitung der Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken. Wie sie zu dieser Arbeit gekommen sind und welchen Beitrag sie als Peer leisten, darüber tauschen sie sich im Gespräch aus.

Christian Feldmann und Andrea Zwicknagl
Christian Feldmann und Andrea Zwicknagl sind Peer-Mitarbeitende. Nach eigener Krisenerfahrung begleiten sie psychisch erkrankte Menschen im Heilungsprozess.

     Christian Feldmann: Ich bin seit 2015 bei den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) Bern als Peer-Mitarbeiter angestellt. Zu Beginn im stationären Wohnen, Wohnverbund , aktuell in der aufsuchenden Wohnbegleitung WohnAutonom. Vor einigen Jahren habe ich dich, Andrea, an einer Versammlung von EX-IN, dem Verein für die Weiterbildung von Menschen mit psychischer Krankheits- und Genesungserfahrung, kennengelernt. Du hast von deiner Vision eines peer-geleiteten Recovery-Hauses berichtet. Was hat dich an diesen Punkt geführt? 

     Andrea Zwicknagl: Der Beitrag, den du damals gehört hast, war meine Portfoliopräsentation zum Abschluss der Peer-Weiterbildung von EX-IN. Ich habe mir vorgestellt, wie ein Ort für Menschen in Krisenzeiten aussehen würde, der nur von Peers getragen wird. Und dann habe ich schon mal die Eröffnungsrede für ein solches Recovery-Haus erarbeitet. Den Mut, anders zu denken – und die Überzeugung, dass dieses Andersdenken in die psychiatrische Versorgung einfliessen kann – hat mir die Peer-Weiterbildung EX-IN gegeben. Nach fast zehnjähriger Krisenerfahrung war es für mich ein wesentlicher Wendepunkt, mit welcher Wertschätzung über ebendiese Erfahrungen gesprochen wurde. 2014/15 habe ich die Weiterbildung selbst absolviert und damit den Grundstein für meine heutige Arbeit als Peer gelegt. Für mich ist das nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung. Etwas, das zu meinem Selbstverständnis gehört. Seelische Krisen sind nicht nur eine Krankheit, sondern können auch eine Qualifikation sein, um andere Menschen zu begleiten. Und auch eine Ressource, um sich zu vernetzen und gemeinsam Ideen zu entwickeln, wie die Zukunft der Psychiatrie aussehen könnte. Wie sieht dein Arbeitsalltag als Peer aus?

     Christian Feldmann: Ich geniesse viel Freiheit in der Arbeitsgestaltung und richte mich nach den Bedürfnissen der Menschen. Die einen bevorzugen den allgemeinen Erfahrungsaustausch, anderen biete ich Klärung, um mit dem Stimmenhören besser klarzukommen. Eine Begleitung zum Einkaufen, ein Hunde-Spaziergang oder auch die Teilhabe an Netzgesprächen, alles soll so lebensnah wie möglich passieren. Oder ich finde mich in der Rolle des Fürsprechers bei Therapeutenterminen wieder. So kann es sein, dass ich dabei helfe, den Wunsch der Person nach einer Medikamentenreduktion umzusetzen. Eine Person treffe ich seit acht Jahren regelmässig, andere lerne ich einmalig kennen. Wichtig bei meiner Arbeit ist: Ich habe auch eine Verantwortung mir selbst gegenüber, ich darf Belastendes nicht weiter mit mir herumtragen. Ich übe mich immer wieder in Selbstfürsorge. Welche Herausforderungen erkennst du im Peer-Alltag?

Oft erhalte ich Rückmeldungen wie: «Du hast Ähnliches erlebt und kannst mich deshalb besser verstehen».

Christian Feldmann Peer-Mitarbeiter


     Andrea Zwicknagl: Wir haben gelernt, geübt und praktizieren täglich, wie wir unsere eigene Erfahrung reflektiert in unsere Arbeit einbringen. Das ist unsere Kernkompetenz. Das fordert vielleicht manchmal heraus, aber ich bin gerne mit Menschen unterwegs, denen das Leben gerade die grossen Fragen stellt. Schwieriger ist es zum Teil, seine eigene Verortung in den Fachteams zu finden. Es hat sich als sehr hilfreich erwiesen, mindestens zwei Peer-Mitarbeitende anzustellen, sodass sie sich austauschen können. Auch eine gute Intervisionskultur im ganzen Team ist förderlich. In meiner Stelle im Offenen Dialog  in Interlaken erlebe ich immer wieder, wie unsere Peer-Haltung mit einer professionellen Nähe zu den Menschen auch für die Kolleg*innen ein spannender Input für ihre Arbeit ist. Was bringt die Peer-Arbeit für dich persönlich, aber auch generell?

     Christian Feldmann: Oft erhalte ich Rückmeldungen wie: «Du hast Ähnliches erlebt und kannst mich deshalb besser verstehen». Ich vermute, dass dies das Verbundenheitsgefühl stärkt und der Stigmatisierung entgegenwirkt. Grundsätzlich finde ich, dass die Unterstützung durch eine Peer-Person in allen Diensten der psychiatrischen Grundversorgung ausdrücklich als Wahlmöglichkeit angeboten werden sollte. Sie sollte aber kein Muss sein. Denn nicht für jeden Unterstützungssuchenden ist Peer-Support in jedem Moment das Passende. Einen weiteren Mehrwert sehe ich darin, dass es in der Peer-Arbeit nicht nur um die Vermittlung von Recovery-Inhalten geht, sondern auch darum, gemeinsam Alltagsherausforderungen anzugehen. Denn erfahrungsgemäss ist nach dem Verstehen das Umsetzen das Schwierige. Im Gegensatz zum fachärztlichen Personal können wir Peers eine andere Beziehung zu den Menschen aufbauen. Und ich bin überzeugt: Es ist die Beziehung, die heilt – die Beziehung zu sich selbst, zur Umwelt, zu herausfordernden Lebensthemen. Ich möchte dir die gleiche Frage stellen: Welchen Mehrwert erkennst du?

     Andrea Zwicknagl: Ich mag den Begriff «Mehrwert» nicht so gerne, er impliziert für mich, dass wir mehr wert sind. Stattdessen möchte ich den Begriff Eigenwert verwenden. Peer-Arbeit hat einen Eigenwert. Sie fügt etwas Eigenes hinzu, das vorher fehlte. Ich bin davon überzeugt, dass jede Berufsgruppe ihren Eigenwert hat, und ich hoffe, dass jede Person in der Psychiatrie den Raum hat, diesen einzubringen. Peers können auf ganz vielen Ebenen etwas hinzufügen, sei es in der Begleitung von Menschen, aber auch im Austausch in den Teams, als Dozierende in Ausbildungen – wie es zum Beispiel an der BFH  bereits geschieht –, als Sprecher*innen an Kongressen oder – so wie du, Christian – auf der Leitungsebene von Institutionen. Du bist einer der ersten Peers in der Schweiz, der Teil der Geschäftsleitung ist.

Peer-Arbeit hat einen Eigenwert. Sie fügt etwas Eigenes hinzu, das vorher fehlte.

Andrea Zwicknagl Peer-Mitarbeiterin

Christian Feldmann: Viele Fachpersonen mit angelerntem Wissen bringen ein zusätzliches Wissen aus ihrem privaten Leben mit. Ich kenne etliche Fachpersonen, die Herausforderndes erfahren haben und mit dieser Auseinandersetzung einen offenen Umgang pflegen. Das bringt die Gesellschaft wieder ein Stück näher zusammen. In jedem von uns steckt ein*e Peer. Und ja, ich begleite und berate die Direktion vom Zentrum der psychiatrischen Rehabilitation der UPD Bern, habe aber keine Entscheidungskompetenzen. In den Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit lasse ich mein Erfahrungswissen auf Direktionsebene einfliessen. Es wird in Zukunft noch viel mehr dieser Stellen brauchen, so dass sich die psychiatrischen Dienste weiter positiv im Sinne der Patient*innen entwickeln können.

Zu den Personen

Zu den Personen

Christian Feldmann 

Christian Feldmann ist Peer-Mitarbeiter bei WohnAutonom der UPD Bern, Fortbildner in erfahrungsfokussierter Beratung (efc) mit Stimmen sowie aktiv im Netzwerk Stimmenhören.

Andrea Zwicknagl

Andrea Zwicknagl ist Peer-Mitarbeiterin bei der Mobilen Krisenbegleitung (nach Open Dialogue) in der Psychiatrie Interlaken und Co-Moderatorin der Stimmenhörguppe im Ambulatorium Mitte der UPD Bern.

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