Tarifkürzung für die Physiotherapie: Welche Auswirkungen hat der Vorstoss?

20.11.2023 Der Bundesrat will den Tarif für die Physiotherapie per 1. Januar 2025 senken. Ein Vorhaben, das auf Widerstand stösst: Am 17. November 2023 haben Physiotherapeut*innen und Physioswiss eine Petition eingereicht. Welche Auswirkungen hätte die Massnahme auf das Berufsbild und das Gesundheitswesen der Schweiz? Dozierende der Berner Fachhochschule schätzen ein, Studierende blicken in die Zukunft.

Der Bundesrat will die Tarife für physiotherapeutische Leistungen senken. Sein Vorschlag, dass Physiotherapeut*innen beispielsweise zu schlechterer Entlöhnung pro Stunde drei Patient*innen behandeln sollen, stösst auf Widerstand. Die Physiotherapeut*innen und mit ihnen der Verband physioswiss haben Unterschriften für eine Petition gesammelt. Am Freitag, 17. November hat der Verband die 283'000 Unterschriften erfolgreich bei der Bundeskanzlei eingereicht (siehe Newsmeldung physioswiss).
Die Unterzeichner*innen befürchten, dass der bereits bestehende Fachkräftemangel in der Physiotherapie durch die Massnahme verschärft wird. Auch Nicole Lutz, Physiotherapeutin bei der Hirslanden Klinik Linde und Dozentin an der Berner Fachhochschule, sieht dies so. «Die meisten physiotherapeutischen Praxen und Ambulatorien haben bereits heute eine Warteliste für die Patient*innen. Wenn die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden, wird es noch schwieriger, geeignetes Personal zu finden», sagt sie. 

Physiotarif Symbolbild
Evidenzbasierte Behandlungen sind die Grundlage der Arbeit von Physiotherapeut*innen. Sie arbeiten eng mit den zuweisenden Ärzt*innen und in Netzwerken zusammen.

«Anreize in die falsche Richtung verschoben»

Gesundheitsökonom Prof. Dr. Tobias Müller, Dozent an der Berner Fachhochschule, befürchtet, dass die Tarifkürzung falsche Anreize schaffen könnte und beruft sich auf die Forschung: «Unzählige Untersuchungen zeigen, dass Patient*innen oft medizinische Leistungen erhalten, die ihnen wenig bringen oder sogar schädlich sind. Ein wichtiger Grund dafür sind die finanziellen Fehlanreize im heutigen System», führt er aus. So würden schon jetzt unnötig chirurgische Eingriffe gemacht werden, die man mit Physiotherapie hätte beheben können. «Wenn jetzt mit der neuen Tarifstruktur die relativen Anreize weiter in die falsche Richtung verschoben werden, verliert die Physiotherapie an Attraktivität und die Probleme verschärfen sich weiter», erklärt Müller. Kurzum: Physioleistungen werden noch stärker mit lukrativeren Behandlungen ersetzt. Das sei weder im Sinne des Systems noch der Prämienzahler*innen oder der Patient*innen.  

Bedeutung der Physiotherapie für Gesundheitsversorgung

Operative Eingriffe minimieren, unnötige Therapiemassnahmen verhindern und so Kosten sparen: Genau das sei ein grosses Ziel der Physiotherapie, führt Nicole Lutz aus. «Wir unterstützen die Patient*innen in ihrer Selbstwirksamkeit und bestärken sie im Management mit Schmerzen und Funktionseinschränkungen», macht sie deutlich. Bei der Physiotherapie-Ausbildung an der Berner Fachhochschule ist immer auch die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der Therapien wichtiges Thema. Evidenzbasierte Behandlungen sind die Grundlage und Physiotherapeut*innen arbeiten eng mit den zuweisenden Ärzt*innen und in Netzwerken zusammen. «Sollten sich die Bedingungen verschärfen, können wir dort weniger unterstützen und vor allem die Hausärzt*innen nicht mehr gleich entlasten – das machen wir in der Tat schon, indem wir kompetent untersuchen und behandeln, entsprechende Rückmeldungen an die Zuweisenden machen und die Patient*innen gezielt begleiten», führt Nicole Lutz aus.

Die im Vergleich zu den Vorjahren unverändert hohen Anmeldezahlen für das Studienjahr 2023/2024 zeigen, dass der Bachelor-Studiengang Physiotherapie an der Berner Fachhochschule weiterhin sehr beliebt ist. Aufgrund des Numerus clausus konnten nicht alle Bewerber*innen aufgenommen werden. Lesen Sie untenstehend, wie Bachelor-Studierende die Zukunft ihres Berufes einschätzen und was sie motiviert, als Physiotherapeut*in zu arbeiten.

Worum geht's?

Mitte August 2023 hat der Bundesrat seine Absicht kommuniziert, die Tarifstruktur für die ambulante Physiotherapie in der Schweiz per 1. Januar 2025 anzupassen (siehe Medienmitteilung des Bundes vom 16.08.2023). Die Tarifstruktur muss von den Tarifpartnern revidiert werden, diese konnten sich aber bisher nicht einigen. Deshalb macht der Bundesrat von seiner subsidiären Kompetenz Gebrauch. Subsidiarität bedeutet, dass der Staat eine Aufgabe übernimmt, wenn es nicht möglich oder nicht sinnvoll erscheint, dass sie von Privaten oder kleinen Gruppen gelöst wird.

Konkret hat der Bundesrat zwei Varianten in die Vernehmlassung geschickt:

  • Variante 1 sieht vor, die bestehenden Sitzungspauschalen für die allgemeine und aufwändige Physiotherapie um eine Mindestsitzungsdauer zu ergänzen und zusätzlich eine neue Pauschale für Kurzsitzungen einzuführen.
  • Variante 2 sieht vor, anstelle der bisherigen Pauschalen eine neue Grundpauschale (Sitzungszeit von mindestens 20 Minuten) sowie eine neue Position für je weitere 5 Minuten Sitzungszeit einzuführen.

Das Ergebnis der Vernehmlassung ist nicht vor dem 2. Quartal 2024 zu erwarten.   

Die Petition, die am 17.11. vom Verband physioswiss eingereicht wurde, hat das Ziel, den Tarifeingriff zu stoppen (siehe Medienmitteilung physioswiss vom 17.11.2023). In ihr werden beide Varianten abgelehnt und die Krankenversicherer aufgefordert, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, um eine partnerschaftliche Lösung zu erarbeiten.

Veit Karpf, BSc-Student im dritten Semester

Wie denken Sie über die geplante Massnahme des Bundesrats und wie geht es Ihnen dabei?

Ich fühle mich vor den Kopf gestossen und finde den Eingriff unfair. Die Versicherer können sich querstellen, bestraft werden die Physiotherapeut*innen. Zudem zeugt es davon, dass der Bundesrat sich bei dieser Vorlage nicht die Meinungen der Physiotherapeut*innen angehört hat.

Beeinflusst die Diskussion Ihre Zukunftsplanung?

Ja, sicherlich. Ich mache mir Gedanken darüber, welche Möglichkeiten (nicht an der Behandlungsliege) es gibt, mit diesem Studium meinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Was motiviert Sie, im Beruf zu bleiben?

Die Arbeit am und mit Menschen gibt einem viel zurück und ist sehr spannend. Ausserdem wird unsere Arbeit im Gesundheitssystem gebraucht, weshalb es keine Option ist, aufzugeben.
 

Katja Wasser, BSc-Studentin im 7. Semester (Praxis-Zusatzmodul)

Wie denken Sie über die geplanten Massnahmen des Bundesrats und wie geht es Ihnen dabei?

Ich bin auf jeden Fall besorgt über die geplanten Massnahmen. Die Arbeitsbedingungen werden dadurch auf keinen Fall besser. Es macht mich traurig, da die Patient*innen darunter leiden würden und die Arbeit immer unbefriedigender werden würde. Ich überlege mir bereits jetzt, ob ich ein 100%-Pensum annehmen möchte. Ich denke, der Physio-Alltag wird durch die geplanten Massnahmen noch viel stressiger und es wird mehr Ausfälle und weniger freie Kapazitäten geben. 

Beeinflusst die Diskussion Ihre Zukunftsplanung?

Da ich im letzten Jahr der Ausbildung bin, mache ich mir auf jeden Fall Gedanken, wie es weitergehen soll. Für mich ist es durch die Diskussion eher keine Option mehr, mich einmal selbstständig zu machen. Dies, weil die Praxiskosten immer weiter steigen, die Entlöhnung jedoch nicht. 

Was motiviert Sie, im Beruf zu bleiben?

Mich motiviert am meisten, dass ich Menschen helfen kann, damit es ihnen wieder besser geht. Die Patient*innen geben einem extrem viel zurück und sind dankbar für die Arbeit, welche man leistet.
 

Nora Räss, BSc-Studentin im 6. Semester

Wie denken Sie über die geplante Massnahme des Bundesrats und wie geht es Ihnen dabei?

Die Physiotherapie verursacht lediglich 3.6 % der gesamten Gesundheitskosten in der Schweiz. Gleichzeitig bietet sie eine günstige und niederschwellige Therapie, unterstützt die Verlagerung von stationär zu ambulant und hilft durch prophylaktische Arbeit, kostenintensive Operationen zu vermeiden. Sie trägt also in vielerlei Hinsicht dazu bei, Kosten im Gesundheitswesen zu sparen. Diese Arbeit sollte honoriert werden. Mit dem geplanten Termineingriff hingegen werden die Bedingungen für Physiotherapeut*innen verschlechtert, was die Attraktivität des Berufs mindert und so langfristig durch Berufsausstiege im schlimmsten Fall eine schlechtere Versorgung der Patient*innen resultiert. 

Beeinflusst die Diskussion Ihre Zukunftsplanung?

Wer Physiotherapie studiert, weiss, welche Löhne in der Branche bezahlt werden. Monetäre Anreize spielen wohl also von Anfang an bei den Studierenden keine Rolle. Personen, die sich für dieses Studium entscheiden, sind motiviert, etwas über den menschlichen Körper zu lernen und mit diesem Wissen Patient*innen zu helfen. Diese Motivation hat auch mich dazu bewegt, diesen Beruf zu erlernen. Deshalb wird die Diskussion meine Zukunftsplanung nicht beeinflussen.  

Was motiviert Sie, im Beruf zu bleiben?

Als Physiotherapeutin weiss ich genau, aus welchem Grund ich jeden Tag zur Arbeit gehe. Es macht enorme Freude, an den Fortschritten der Patient*innen teilzuhaben und so zu sehen, dass die eigene Arbeit tatsächlich etwas bringt. Hinzu kommt eine Faszination für das Fach mit all seinen Facetten. Mit den unzähligen Weiterbildungsmöglichkeiten wird mir der Beruf, so nehme ich das zumindest im Moment an, nie langweilig.  

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Fachgebiet: Caring Society + Alter, Gesundheit, Gesundheitstechnologien + Public Health, Physiotherapie + Rehabilitation