«Angehörigenberatung ist auch Präventionsarbeit»

28.09.2023 Tobias Furrer ist Leiter Fachstelle Angehörigenberatung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) und bietet Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen Hilfe in Form von Beratungsgesprächen. Seine Arbeit soll dazu beitragen, dass Angehörige nicht selbst zu Betroffenen, sondern zu wichtigen Beteiligten im Genesungsprozess werden.

Tobias Furrer sitzt einer Frau gegenüber und hört ihr zu.
Tobias Furrer berät Angehörige von psychisch erkrankten Menschen und stellt ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt. Bild: BFH

Tobias Furrer, für wen gibt es die Angehörigenberatung? 

Unser Angebot richtet sich nicht nur an Familienangehörige, sondern an alle Menschen, die in irgendeiner Form emotional mit der erkrankten Person verbunden sind. Dies können Personen aus dem Freundeskreis, Nachbar*innen oder Arbeitgebende sein. Wichtig ist: Unser Angebot ist kostenlos und steht allen Angehörigen offen, unabhängig davon, ob die erkrankte Person bei uns hospitalisiert ist. So handhaben es alle Mitglieder des Netzwerks Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP).

Wer nutzt Ihr Angebot?

Die Ratsuchenden sind sehr verschieden. Darunter befinden sich auch Kinder ab Kindergartenalter in Begleitung ihrer Bezugsperson oder Menschen, die in New York leben und in der Schweiz für erkrankte Angehörige sorgen. Die Mehrheit sind Angehörige von chronisch Erkrankten, wie Menschen mit Schizophrenien oder Depressionen. Aktuell nutzen mehr Frauen als Männer unser Angebot. Ich vermute, dass dies kulturelle Gründe hat. Man weiss, dass es Frauen leichter fällt, Hilfe in Anspruch zu nehmen. 

«Das Beratungsangebot bietet den Angehörigen einen sicheren Raum, in dem sie ihre Sichtweise schildern und Gedanken laut aussprechen können, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse oder Gefühle des psychisch erkrankten Menschen.»

Was erwartet die Angehörigen bei einem Beratungsgespräch?

Die Beratung findet abgekoppelt von der psychisch erkrankten Person statt, teilweise sogar anonym. Als Berater kenne ich die betroffene Person nicht und lese auch keine Krankenakten, so braucht es kein Einverständnis der Betroffenen. Am Anfang lassen wir die Angehörigen ihre Geschichte erzählen. Viele erleben bei uns zum ersten Mal, dass ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Das Beratungsangebot bietet den Angehörigen einen sicheren Raum, in dem sie ihre Sichtweise schildern und Gedanken laut aussprechen können, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse oder Gefühle des psychisch erkrankten Menschen. 

Wie meinen Sie das?

In Familiengesprächen – ein wichtiger Teil der Angehörigenarbeit – ist die betroffene Person dabei und der Fokus liegt auf dem Genesungsprozess. Hier können Angehörige keine heiklen Fragen stellen wie «Sollte ich mich für mein psychisches Wohl von meiner Partnerin distanzieren?». Bei mir kann der Angehörige diesen Gedanken aussprechen und sachlich Pro und Kontra abwägen. Wichtig: Die Angehörigenberatung ist eine Ergänzung zur Angehörigenarbeit, die auf der Station stattfindet. Das eine ersetzt das andere nicht.  

Was brauchen die Angehörigen in einem zweiten Schritt von Ihnen?

Die einen haben vor allem administrative Fragen, andere möchten lernen, wie sie mit der Erkrankung umgehen und Lebensqualität zurückgewinnen können. Wir erarbeiten Schritte, wie die Angehörigen den Belastungen begegnen können. Diese sind nicht nur psychischer Natur, sondern äussern sich auch somatisch z. B. durch Schlaflosigkeit oder Verdauungsbeschwerden. Dann gibt es ökonomische Faktoren wie die Übernahme von Kosten oder die Notwendigkeit, für die Betreuung das eigene Pensum zu reduzieren. Nicht zu unterschätzen sind auch soziale Belastungen wie Stigmatisierung in der Gesellschaft oder Schuldzuweisungen. Angehörige lernen mit uns, den Konflikt zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge zu bewältigen.

Warum ist Angehörigenberatung und Angehörigenarbeit in der Psychiatrie so wichtig?

Angehörige haben durch ihre Belastung ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst psychisch zu erkranken. Wir möchten sie so begleiten, dass sie nicht zu Patient*innen werden. Insofern ist Angehörigenberatung auch Präventionsarbeit. Auch helfen wir den Angehörigen, die eigene Rolle im Umgang mit der erkrankten Person bewusst zu gestalten, damit sie den Genesungsprozess als wichtige Netzwerkpartner unterstützen und den Therapieerfolg im Alltag verlängern können. 

Sie beraten nicht nur Angehörige, sondern auch Fachleute im Umgang mit Angehörigen. Worum drehen sich deren Anliegen? 

Die Fragen sind oft juristischer oder fachlicher Natur: «Wie weit geht meine Schweigepflicht?» oder «Wie gestalte ich ein Familiengespräch, so dass es für alle Beteiligten hilfreich ist?». Das Netzwerk Angehörige Psychiatrie (NAP) bietet Workshops für Teams an, um die Angehörigenarbeit in der Klinik zu professionalisieren, oder berät Spitex-Mitarbeitende für neue Inputs im Umgang mit Betroffenen.  

«Wegen der Schweigepflicht dürfen Gesundheitsfachpersonen ohne Vollmacht nicht viel sagen, aber sie dürfen zuhören. Und Gehörtwerden ist ein zentrales Bedürfnis der Angehörigen.»

 Wie können Gesundheitsfachperson auf der Station die Angehörigen begleiten?

Indem sie eine Willkommenskultur für die Angehörigen schaffen, die bereits beim Klinikeintritt beginnt. Bis dahin waren die Angehörigen oft schon wochen- oder monatelang stark belastet, der Eintritt ist für sie eine Entlastung, aber auch verbunden mit Angst, Selbstvorwürfen und Unsicherheit. Eine Fachperson kann diesen Gefühlen begegnen, indem sie signalisiert: «Es ist okay, wir übernehmen jetzt». Wegen der Schweigepflicht dürfen Gesundheitsfachpersonen ohne Vollmacht nicht viel sagen, aber sie dürfen zuhören. Und Gehörtwerden ist ein zentrales Bedürfnis der Angehörigen. Auch allgemeine Auskünfte helfen bereits: Wie funktioniert die Therapie, was bedeuten die Fremdwörter, welche Bücher kann ich lesen? 
Ich wünsche mir, dass man bei der Austrittsplanung an die Angehörigen denkt und sie miteinbezieht. Davon profitieren auch die Betroffenen. 

Was können Politik und weitere Akteure des Gesundheitssystems für die Angehörigenarbeit von psychisch Erkrankten machen?

Von den Krankenkassen verspreche ich mir wenig, da das System sehr patientenfokussiert ist. Man zahlt im Grundsatz für die Krankheit, nicht für die Gesundheit oder soziale Systeme. Spannend finde ich aber den politischen Wandel hin zu angehörigenfreundlicheren Rahmenbedingungen. So wurden in den letzten Jahren verschiedene Massnahmen getroffen, um Angehörige zu unterstützen: Sei es mit der Erweiterung der Lohnfortzahlung bei Kurzabwesenheiten für Kinderbetreuung auf Erwachsene oder dass die Betreuungsgutschriften der AHV ausgeweitet wurden. Das sind alles grossartige Silberstreifen. 

Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP)

Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP)

Der Verein «Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie» (NAP) bezweckt die Professionalisierung und Vernetzung von Fachleuten, die in psychiatrischen Institutionen in der Angehörigenarbeit tätig sind. Es ist Aufgabe des Vereins, den Stellenwert der Angehörigenarbeit in der psychiatrischen Versorgung und Behandlung zu erhöhen und das Wissen unter Fachpersonen zu fördern. Im Jahr 2022 zählte NAP 33 Institutionen, 19 Einzelpersonen und 5 Gönner zu ihren Mitgliedern.

Interview: Nicole Schaffner

Mehr erfahren

Fachgebiet: Caring Society + Alter, Pflege