Generationenwohnen: altbekanntes Prinzip, neu aufgelegt

13.03.2023 In der Schweiz sind seit den frühen 1970er-Jahren die unterschiedlichsten Generationenwohnprojekte entstanden. Altersdurchmischtes Wohnen gehört in diesen Siedlungen explizit zum Konzept. Das Zusammenleben mehrerer Generationen in Häusern und Quartieren ist aber auch sonst der Regelfall. Mit generationenübergreifend konzipierten Siedlungen ist jedoch ein zusätzlicher gemeinschaftlicher Anspruch in Bezug auf soziale Beziehungen und gegenseitige Unterstützung verbunden.

Explizite Generationenwohnprojekte erhalten aktuell viel öffentliche Aufmerksamkeit. Sie machen zwar nur einen kleinen Anteil der Schweizer Wohnsubstanz aus, gelten aber vor dem Hintergrund der alternden Gesellschaft als zukunftsfähiges Wohnmodell. Eine Recherche im Rahmen des Forschungsprojekts «Generationenwohnen in langfristiger Perspektive – von der Intention zur gelebten Umsetzung», an dem die Berner Fachhochschule beteiligt ist (siehe Kasten) ergab die Zahl von 76 Generationenwohnprojekten in der Schweiz, die bis 2017 entstanden sind. Die Recherche macht auch deutlich, dass diese sowohl in urbanen, stadtnahen als auch in ländlichen Gebieten vorkommen. Etwa die Hälfte sind kleinere Projekte mit weniger als 30 Wohnungen.

Wunsch nach generationenübergreifenden Netzwerken

Massgeblicher Treiber vieler Generationenwohnprojekte ist die Förderung des sozialen Zusammenhalts, indem im Wohnumfeld Netzwerke zwischen Menschen unterschiedlichen Alters unterstützt und gestärkt werden. Um zu Hause alt zu werden, sind sozialräumliche Netzwerke zur Unterstützung und Teilhabe zentral. Der Grossteil der Menschen über 65 Jahren wünscht sich, in Nachbarschaften mit Menschen unterschiedlicher Generationen zu leben (Höpflinger et al. 2019). Tatsächlich nimmt die Zahl – jedoch nicht die Enge – generationenübergreifender Beziehungen ab, da diese primär im familiären Kontext stattfinden (Age Stiftung 2020). Ausserhalb des familiären Umfelds leben Menschen tendenziell eher in altershomogenen Netzwerken, was auch auf Nachbarschaftskontakte zutrifft. So gaben in einer Studie zu altersübergreifenden Kontakten im nachbarschaftlichen Umfeld rund zwei Drittel der befragten Personen an, dass es sich bei denjenigen Nachbar*innen, zu denen sie ein gutes und enges Verhältnis haben, um Menschen im selben Alter handelt (Seifert 2020).

Zusammenleben zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Im Forschungsprojekt «Generationenwohnen in der Langzeitperspektive» wurde deutlich, wie anspruchsvoll sich intergenerationelles Zusammenleben im Alltag der Wohnprojekte gestaltet. So gibt es unterschiedliche Rhythmen und zeitliche Verfügbarkeiten, welche die Begegnung und das Miteinander der Generationen erschweren oder sogar verunmöglichen. Das Projekt zeigt auch, dass Generationenzugehörigkeit eher als sekundäre Eigenschaft auf die Beziehungsbildung einwirkt: Sympathie, geteilte Werte, ähnliche Lebensumstände oder bestimmte Persönlichkeitsmerkmale sind entscheidender für das Entstehen von Beziehung und Gemeinschaft als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe.

Nicht immer läuft das Zusammenleben in den Projekten harmonisch. In Interviews wurde betont, wie wichtig die Reflexionsfähigkeit und darauf aufbauend die Bereitschaft und Fähigkeit sind, das eigene Verhalten zu verändern. Beim genaueren Blick in die Praxis zeigte sich auch, dass Generationenwohnprojekte mit denselben Problemen kämpfen wie «gewöhnliche» Hausgemeinschaften: Auch hier führen Klassiker wie Party-Lärm, bellende Hunde oder die gemeinsame Waschküchennutzung zu Dissonanzen.

Altern mit nachbarschaftlicher Unterstützung

Obwohl mit Generationenwohnen verbreitet die Vorstellung von gegenseitiger Unterstützung im Alter verbunden wird, thematisieren nur wenige der untersuchten Wohnsiedlungen den Umgang mit altersbedingter Fragilität. Der Entwicklung weiterführender Konzepte zum gemeinsamen Altern steht möglicherweise im Wege, dass Nachbarschaftshilfe erfahrungsgemäss vor allem bei einfachen, nicht allzu intimen Dingen funktioniert. Zudem ist die Vorstellung von Alltags-Unterstützung als privater, innerfamiliärer Aufgabe gesellschaftlich noch immer sehr präsent. (Age Stiftung 2020)

Nachbarschaftliche Alltagsunterstützung lässt sich als Tauschbeziehung fassen, die nach den Kriterien der Gegenseitigkeit, Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit funktioniert. Ein solcher «Tauschhandel» unter Nachbar*innen gelingt dort, wo die Beteiligten zur selben Zeit eine ähnliche Bedarfs- und Ressourcenlage teilen – was de facto wahrscheinlicher ist, wenn sie sich in derselben Lebensphase befinden (ebd.). Dies mag mit ein Grund sein, weshalb Vorstellungen wie «Die Jüngeren kaufen für die Älteren ein, während diese zu den Kindern schauen» oft wenig realitätsnah sind.

Forschungsprojekt «Generationenwohnen in langfristiger Perspektive – von der Intention zur gelebten Umsetzung»

Das angewandte Forschungsprojekt beschäftigt sich mit Potenzialen und Herausforderungen von Generationenwohnprojekten im Zeitverlauf. Eine vergleichende Analyse hat zum Ziel, Handlungsempfehlungen für interessierte Akteur*innen zu entwickeln.

Nach einer umfassenden Bestandesaufnahme in allen Sprachregionen der Schweiz wurden 19 Kurzporträts erstellt und zu einer Dokumentation zusammengefasst. Die Sammlung zeigt die Vielfalt von Generationenwohnprojekten hinsichtlich Grösse und Gemeinschaftlichkeitsanspruch und versucht, die unterschiedlichen Handlungsansätze fassbarer zu machen. Sechs vertiefende Fallstudien, die auf qualitativen Interviews und ethnografischen Beobachtungen basieren, sind gegenwärtig in Arbeit.

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Wandel und Individualität der Wohnprojekte

Alle untersuchten Generationenwohnprojekte verfolgen den Anspruch, eine gewisse Altersverteilung zu sichern. In der Realität zeigen sich Verschiebungen im Zeitverlauf. So begann man in einem Projekt aufgrund der lokal existierenden Wohnungsnot nach Zufallsprinzip zu belegen. In einem anderen, stark gemeinschaftlich geprägten Projekt werden Menschen über fünfzig nur noch mit Zurückhaltung aufgenommen, was mit altersabhängig unterschiedlichen Bedürfnissen und Vorstellungen des Zusammenlebens begründet wird.

Das Forschungsprojekt zeigt, dass die konkrete Ausgestaltung der Generationenwohnprojekte stark von den involvierten Individuen und den damit verbundenen Konstellationen abhängt. Dies führt auch zu diversen und sich wandelnden Alltagsmustern, was die Chance zur Replikation bestimmter Wohnkonzepte oder -projekte mindert. Ein- und Auszüge von Mitbewohner*innen können bestehende Gefüge ins Wanken bringen und unterschiedliche Reaktionen hervorrufen, die von Erleichterung und Entlastung über Ermüdung und Rückzug (je nach Projekt unterschiedlich gut möglich – baulich, aber auch konzeptuell) bis hin zum Auszug reichen. Gelebtes Generationenwohnen bedingt also eine kontinuierliche Aushandlung von Gemeinschaftlichkeit und Individualität, von Nähe und Distanz, aber auch das Bewusstsein für die dem Geben und Nehmen zugrundeliegenden Reziprozitätsstrukturen.

Literaturverzeichnis

  • Age Stiftung (2020): Generationen-Wohnen heisst Nachbarschaft. Age-Dossier 2.
  • Höpflinger, François; Hugentobler, Valérie; Spini, Dario (2019): Wohnen in den späten Lebensjahren. Grundlagen und regionale Unterschiede. Age Report IV. Zürich, Genf: Seismo.
  • Seifert, Alexander (2020): Altersübergreifende Nachbarschaftskontakte. Datenauswertung im Auf-trag der Age-Stiftung. Universität Zürich, Zentrum für Gerontologie.

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