Menschenrechte in der Psychiatrie: Wo steht die Schweiz?

05.10.2023 Die Psychiatrie in der Schweiz geriet in jüngster Zeit immer wieder in die Schlagzeilen im Zusammenhang mit Zwang und Behandlungen gegen den Willen der Betroffenen. Dies wirft die Frage auf, wie es um die Rechte von Menschen mit psychischen Problemen hierzulande steht.

Politisch ist die Sachlage klar: Mit der Unterzeichnung der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) im Jahr 2014 hat sich die Schweiz auf den Weg gemacht, die in der Konvention definierten Menschenrechte zu wahren. Dies würde beispielsweise bedeuten, Zwang gegenüber Menschen mit körperlichen, psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen, wenn nicht abzuschaffen, so doch zumindest zu reduzieren. Die wenigen Daten sprechen jedoch eine andere Sprache. Zwangsmassnahmen in den psychiatrischen Kliniken der Schweiz nehmen seit Jahren zu. Bestätigt werden diese Daten durch eine Evaluation, der sich alle unterzeichnenden Staaten regelmässig unterziehen müssen. In diesem Staatenberichtsverfahren, das in der Schweiz erstmalig 2022 durchgeführt wurde, beurteilt ein UN-Komitee den Stand der Umsetzung der Konvention im jeweiligen Land. Das Ergebnis ist für die Schweiz wenig schmeichelhaft – das Komitee zeigt zahlreiche Mängel und Probleme auf (EDI, 2022). 

Bestandesaufnahme der psychiatrischen Versorgung

Das Staatenberichtsverfahren bezieht sich auf alle Menschen mit Beeinträchtigungen. Forschende des Innovationsfelds «Psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung» des Fachbereichs Pflege der Berner Fachhochschule (BFH) haben daher Daten und Fakten zur psychiatrischen Versorgung in der Schweiz zusammengestellt und analysiert (Richter et al., 2023). Die vom Evaluationskomitee festgestellten Mängel und Probleme sind nicht zuletzt mit einem grundsätzlich unterschiedlichen Verständnis von psychischen Problemen und deren Versorgung verbunden. Dies zeigt sich am Beispiel des Artikels 12 der UNO-BRK, der die gleiche rechtliche Anerkennung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen vorsieht. Konkret bedeutet dies beispielsweise die Forderung nach Abschaffung der Beistandschaft gegen den Willen der betroffenen Person und die Möglichkeit, Zwangsmassnahmen aller Art abzulehnen, auch wenn Fachpersonen von einer Urteilsunfähigkeit ausgehen. 

Jedes Jahr sind in der Schweiz mehrere Tausend von solchen Zwangsmassnahmen betroffen. Rund 16'000 Personen werden jährlich mittels fürsorgerischer Unterbringung (FU) gegen ihren Willen in psychiatrische Kliniken eingewiesen, davon 8'000 Personen mit weitergehenden Massnahmen wie Fixierung, Isolation und Zwangsmedikation. Die Bedenken des UN-Evaluationskomitees gehen über die Frage des unmittelbaren Zwangs hinaus. Die Intention der UNO-BRK ist es, Menschen mit Beeinträchtigungen gemäss ihrem «Wille[n] und [ihren] Präferenz[en]» zu unterstützen. Bemängelt wird etwa der unzureichende Ausbau gemeindenaher und aufsuchender Angebote, wie z. B.  das Home Treatment, bei dem Menschen in akuten psychischen Krisen nicht in der Klinik, sondern in ihrem häuslichen Umfeld begleitet werden.

Ein weiteres Thema ist die nach wie vor grosse Zahl von Wohnheimen, in denen viele Menschen aufgrund behördlicher Einweisung gegen ihren Willen leben müssen. Kritisiert werden auch die zahlreichen Werkstattplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen. Problematisch ist hier der systematische Ausschluss vom allgemeinen Arbeitsmarkt, verbunden mit sehr niedrigen Löhnen und teilweise fragwürdigen Arbeitsbedingungen. Sowohl im Wohn- als auch im Arbeitsbereich gibt es in der Schweiz Unterstützungsprogramme, die es Menschen ermöglichen, nach ihren Präferenzen zu leben und zu arbeiten. Diese sind jedoch nur sporadisch etabliert und oft unzureichend finanziert.
 

Psychiatrische Behandlung der Soteria Bern

Psychiatrische Behandlung der Soteria Bern

Die Behandlung in der Soteria Bern beschränkt sich nicht auf den stationären Aufenthalt. Sie kann bereits vorgängig in Form von ambulanten Beratungsgesprächen, Wohnbegleitungen oder Frühintervention im tagesklinischen Alltag im Tageszentrum Soteria beginnen. Im Anschluss an den stationären Aufenthalt in der Soteria gewinnen die Nutzenden im Tageszentrum wieder Boden unter den Füssen. Sie planen hier erste Schritte Richtung Reintegration in der Arbeit oder Beschäftigung, beim Wohnen und im sozialen Umfeld und setzen diese um. Alle Entscheidungen in den verschiedenen Behandlungsstadien werden auf Augenhöhe und gemeinsam mit den Nutzenden und auf deren Wunsch unter Einbezug der Angehörigen und des sozialen Umfelds getroffen.

Der Recovery-Ansatz ist ein fester Bestandteil der Grundhaltung der Soteria Bern. Es ist ein Prozess der Auseinandersetzung der Betroffenen mit ihrer Erkrankung, der dazu führt, dass sie trotz ihrer psychischen Probleme in der Lage sind, ein selbstbestimmtes, hoffnungsvolles und sinnerfülltes Leben zu führen.

Vorbildliche Versorgungsangebote im Kanton Bern

Bei aller Kritik und offensichtlichen Defiziten in der nationalen und kantonalen Versorgung gibt es auch Gegenbeispiele. Die Weltgesundheitsorganisation WHO (2021) hat in ihren Richtlinien zur gemeindenahen psychiatrischen Versorgung weltweit zwei Versorgungsangebote empfohlen, die im Kanton Bern verfügbar sind oder sogar wesentlich entwickelt wurden. Ein Angebot ist der in Finnland entwickelte «Offene Dialog», bei dem Menschen in akuten psychischen Krisen aufsuchend in ihrem häuslichen Umfeld begleitet und behandelt werden. Am Dialog nimmt nicht nur die betroffene Person teil, sondern auch das Familiensystem – sofern vorhanden – oder andere Beteiligte aus dem sozialen Umfeld. Das Angebot Offener Dialog der Spitäler FMI Interlaken hat zum Ziel, bei der Bewältigung der psychischen Krise zu helfen, eine Hospitalisation zu vermeiden und damit das Risiko von Zwangsmassnahmen und anderen negativen Begleiterscheinungen zu vermindern.

Sollte ein stationärer Aufenthalt unumgänglich sein, steht mit der «Soteria» im Berner Länggass-Quartier ein weiteres, aus Sicht der WHO vorbildliches Unterstützungsangebot zur Verfügung (siehe Bildstrecke). Kern des Soteria-Konzepts ist die Bewältigung der akuten psychotischen Krise mit möglichst wenig Medikamenten. Neben den therapeutischen Gesprächen haben sich die wohnliche Atmosphäre und die Einbindung in die Gemeinschaft von bis zu zehn Gleichbetroffenen als wirksam erwiesen, wie eine laufende Evaluationsstudie der BFH nahelegt. Der Verzicht auf Zwang und der präferenzorientierte Ansatz werden von der WHO sowohl für die Soteria als auch für den Offenen Dialog als vorbildlich angesehen. 

Noch ein weiter Weg vor uns

Die Daten- und Faktensammlung der BFH hat gezeigt, dass in der Schweiz noch ein weiter Weg bis zur vollständigen Umsetzung der UNO-BRK in der psychiatrischen Versorgung zurückzulegen ist. Hindernisse liegen unter anderem im Rechtssystem, in der Haltung der Fachkräfte, in ökonomischen Fehlanreizen sowie in der föderalen Struktur, die zum Beispiel ein systematisches Monitoring der Umsetzung verunmöglicht. Von zentraler Bedeutung ist jedoch der unzureichende Einbezug von Menschen mit psychischen Problemen in die Planung, Steuerung und Umsetzung von Versorgungsangeboten. Der Wille und die Präferenzen von Menschen mit psychischen Problemen können auf diese Weise noch nicht angemessen berücksichtigt werden.
 

Literatur

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Fachgebiet: Pflege, Caring Society + Alter